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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele
Autoren: Ralf Isau
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sammelte. Als das felsige »Nest« vollgelaufen war, suchte sich der Quellstrom wieder seinen Weg aus der Höhle.
    »Passt genau«, beglückwünschte sich Stella leise und lehnte sich entspannt zurück. Jetzt erhielt das Ei die Wärme, die es brauchte, um sein Geheimnis heranreifen zu lassen. Was würde wohl dieser voluminösen Kinderstube entsteigen? Hoffentlich keine Reinkarnation dieser öden Tamagotchis. Stella hatte diesen virtuellen Tierchen noch nie viel abgewinnen können, diesen plumpen Plastikeiern, die man ständig futtern, medikamentös versorgen oder mit langweiligen Spielen beschäftigen musste, damit sie nicht vorzeitig an irgendwelchen Mangelerscheinungen eingingen. Aber nein, diese geheimnisvolle Welt aus Höhlen, Gängen und unterirdischen Flüssen war viel zu aufregend, um Heimat von etwas ähnlich Simplem zu sein. Dieses Ei war ein Schlüssel, so viel stand fest. Vielleicht gelangte sie mit dessen Hilfe auf einen neuen Spiellevel. Ja, so musste es sein. Wenn es erst ausgebrütet war, dann würde alles ganz anders werden…
    Plötzlich fuhr Stella hoch und riss sich erschrocken die VR-Brille vom Gesicht. Sie hatte ein Motorengeräusch gehört, ein unverkennbares Aufheulen, wie es nur ein zahmer Volvo hervorbringen konnte, der mit weit über fünftausend Umdrehungen pro Minute in die Einfahrt gejagt wurde.
    Ihr Vater war im Anmarsch!
    Mit einem Mal wurde Stella regelrecht übel – vielleicht eine Folge des schnellen Wechsels von der Kagee- Welt in die wirkliche. Doch sie hatte keine Zeit, um sich über virtuelle Reisekrankheiten Gedanken zu machen. Wenn Salomon von ihrer Schatzsuche im Chaos Wind bekam, dann…
    Sie warf einen letzten Blick auf den Monitor. Er zeigte ein großes graubraunes Ei in einer Wasserlache. Dann drehte sie die Helligkeit des Bildschirmes herunter und schaltete ihn sicherheitshalber ganz ab. Sollte ein zufälliger Blick ihn streifen, würde ihr Geheimnis unentdeckt bleiben. Da der PC selbst jedoch noch lief, konnte das Ei weiter im warmen Strom des Quellwassers heranreifen.
    Jetzt durfte sie keine Zeit mehr verlieren. Hastig holte Stella den Datenträger aus dem Laufwerk und rannte damit die Treppe zum Erdgeschoss hinunter.
    Die Kalders bewohnten ein großzügiges Haus in Nikolassee. Salomon hatte es von seinen Eltern geerbt. Bis er den Volvo sicher in der Doppelgarage verstaut, den Garten durchquert und die Haustür geöffnet hätte, würden ziemlich genau einhundertfünfzig Sekunden vergehen. Stella hatte dies schon bei früheren Gelegenheiten herausgefunden. Zum Glück musste sie in diesem Augenblick nicht gegen ihre Mutter antreten. Viviane schaffte die gleiche Aufgabe in knapp der Hälfte der Zeit.
    Als Stella, vom schlechten Gewissen geplagt, die Diele erreichte, erschien ein Schatten vor der gläsernen Eingangstür. Die schlanke, präzise ein Meter achtzig hohe Silhouette war unverkennbar.
    Stella keuchte. Unmöglich! Es konnten doch höchstens erst hundert Sekunden vergangen sein.
    Die verschwommene Gestalt hinter der gläsernen Tür rührte sich nicht. Stella wusste, was das bedeutete. SESAM prüfte das Gesicht des Ankömmlings. Der elektronische Pförtner litt heute wieder einmal unter Kurzsichtigkeit – Stella jedenfalls hatte er Stunden zuvor weder am Aussehen noch an der Stimme oder ihren Lippenbewegungen erkannt. Zum Glück besaß das Haus noch ein ganz normales Sicherheitsschloss.
    »Nun mach schon auf!«, drang eine verärgerte Stimme durch die Haustür.
    Stella war unfähig einen Vorteil aus SESAMs getrübter Wahrnehmung zu ziehen. Wie angenagelt stand sie in der Diele und starrte auf den Schemen hinter dem Glas.
    Schon klimperte ein schwerer Schlüsselbund am Türschloss. Stella blickte gehetzt auf den Datenträger in ihrer Hand, dann auf die noch immer offen stehende Tür des Chaos. Sie würde es nicht schaffen, die Disk zurückzubringen und sich wieder davonzumachen.
    Angesichts der drohenden Entdeckung schwebte seltsamerweise noch einmal das letzte Bild vom Monitor durch Stellas Geist.
    Sie nickte wissend. Ohne Frage, das Ei war wirklich ein Schlüssel. Vielleicht würde sie ihn nie gebrauchen können, wenn ihre Schnüffelei jetzt ans Tageslicht kam. Nein, das durfte nicht geschehen. Nur wenn sie den Schlüssel benutzte, konnte sie das Tor zu einer neuen Welt aufstoßen.

 
    VERPASST
     
     
     
    Das Audimax lag schon hinter ihm. Mark war gerade in den Altbau des großen Hauptgebäudes an der Straße des 17. Juni hinübergewechselt und erreichte nun
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