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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Autoren: Dubravka Ugresic
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Abwesenheit, eine kaum sichtbare innere Geducktheit.
Die Unsrigen gehen durch die Stadt wie durch einen Dschungel, voller Angst
, sagte Selim. Auch wir waren –
Unsrige
.

    Wir hatten das Land verlassen wie Ratten ein sinkendes Schiff. Wir waren überall. Viele versteckten sich noch eine Zeit lang im Land, überzeugt, der Krieg würde rasch vergehen wie ein Unwetter. Sie blieben bei Verwandten, Freunden, Freundenvon Freunden, guten, hilfsbereiten Menschen. Sie lebten in improvisierten Flüchtlingslagern, in leeren Touristencamps, in Hotels, die vorübergehend Unterkunft boten, meistens an der Adriaküste, aber nur im Winter, wenn keine Touristen kamen, danach würden sie nach Hause zurückkehren, dieser Krieg würde nicht lange dauern, kein Krieg dauere lange, er höre auf, wenn die Menschen erschöpft seien … Einige steckten ein, zwei, drei Jahre fest, Touristen kamen ohnehin nicht. Einige zogen weiter. Und jeder hatte seine Geschichte.

    Eine Belgraderin, die sah,
wohin all das führt
, und über den Hass ihrer Mitbürger entsetzt war, verkaufte ihr Haus in der Hauptstadt und zog kurz vor dem Krieg in das »friedliche« Kroatien. Sie kaufte eine Wohnung im istrischen Rovinj. Als dann auch die Kroaten ihre Zähne fletschten, verkaufte sie Hals über Kopf die Wohnung in Rovinj und siedelte nach Sarajevo über. Die ersten serbischen Granaten – so als folgten sie ihren Handlinien und verwirklichten das Schicksal, das ihr von Geburt an beschieden war – zerstörten ihre Wohnung.
Ein Glück, dass sie gerade nicht zu Hause war. Jetzt geht es ihr gut, sie hat mir aus Caracas geschrieben. Wie ist sie ausgerechnet auf Caracas gekommen!
, sagte die Bekannte, die mir diese Geschichte erzählte.

    Die kroatischen Flüchtlinge aus Slawonien machten sich auf nach Zagreb, nach Istrien, zum Meer. Die Flüchtlinge aus Bosnien nach Süden, nach Kroatien, oder nach Osten, nach Serbien. Die kroatischen Serben wanderten leise aus Kroatien ab, bis sie später in Massen vertrieben wurden. Die Ungarn aus der Vojvodina wanderten still nach Ungarn aus. Später sollten ihnen Serben folgen. Die Albaner aus dem Kosovo ebenfalls … Das wird nicht so bald enden.

    Wir flohen von überall und kamen überall an. Die Preislisten des Lebens richteten sich nach den Umständen. Einige kümmerten sich nur um die »Ihrigen«, einige um die »Ihrigen« und die »Fremden«, einige fragten nicht, wer wer war. Bosnische Muslime brachen in die Türkei auf, in den Iran, den Irak, man fragte nicht viel, einige gelangten bis nach Pakistan. Viele von ihnen bereuten das. Bosnische Juden brachen nach Israel auf. Auch unter ihnen gab es solche, die bereuten. Sie änderten ihre Namen, kauften falsche Pässe, wenn sie konnten. Was ihnen noch bis eben wichtig war – Glaube und Nationalität –, wurde zur wertlosen Valuta. Wichtiger war es zu überleben. Als sie überlebt hatten, am sicheren Ufer angekommen waren, aufgeatmet hatten, hängten viele ihre Fahnen, Ikonen, Wappen und Heiligen wieder auf.

    Wir waren überall. Viele flohen rechtzeitig an bessere Orte, nach Amerika, nach Kanada, andere kamen zu spät und trieben ziellos umher: sie gingen, wenn sie konnten, irgendwohin mit ihrem ein, zwei Monate gültigen Touristenvisum, kamen zurück und versuchten wieder fortzugehen. Für viele waren im allgemeinen Chaos Gerüchte der einzige Kompass. Darüber, wohin man ohne Papiere gehen konnte oder nicht konnte, wo es besser, wo es schlechter war, wo man willkommen war und wo nicht. Die Preise für die Pässe der neuen Länder, die slowenischen und die kroatischen, stiegen. Mit dem kroatischen konnte man eine Zeit lang nach Großbritannien, bis die Briten die Einreise verboten. Einige Naive glaubten dem Gerede, in Südafrika würde man als Weißer mit offenen Armen empfangen, und reisten dorthin. Die Serben verteilten sich über Griechenland als Touristen und Prostituierte, als Kriegsgewinnler, Geldwäscher und Diebe. Einige besorgten sich drei Pässe, den kroatischen, den bosnischen und den »jugoslawischen«, in derHoffnung, wenigstens mit einem Glück zu haben. Einige warteten, dass der Krieg vorüberzöge wie ein Gewitter. Wer Kinder hatte, sah nur zu, die Kinder in Sicherheit zu bringen.

    Europa wimmelte von ehemaligen Jugos. Die Kriegsemigranten, die den legalen Flüchtlingsstatus bekamen, zählten nach Hunderttausenden. Schweden nahm siebzigtausend auf, Deutschland dreihunderttausend. Die Niederlande fünfzigtausend. Die Zahl der Illegalen ist unbekannt.
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