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Das Meer wird dein Leichentuch

Das Meer wird dein Leichentuch

Titel: Das Meer wird dein Leichentuch
Autoren: Melanie Maine
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Personal lagen unmittelbarer Nähe der Ersten Klasse, damit wir den Herrschaften bei Bedarf sofort zur Verfügung standen.
     
    Meine eigenen Habseligkeiten erschöpften sich in zwei Kleidern, etwas Wäsche und einem modischen Hut, den ich mir von der Anzahlung auf mein künftiges Gehalt noch in Paris gekauft hatte. Mit der vollgestopften Reisetasche und der Hutschachtel schob ich mich in der Schlange der Menschen vorwärts, die sich über die Gangway vom Tenderschiff in den Schiffsrumpf der Titanic drängte.
    Ein wahrhaft babylonisches Sprachgewirr drang an meine Ohren. Auswanderer aus aller Herren Länder drängten sich an Bord der Titanic, um in der neuen Welt ein neues Leben zu beginnen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Stewards mit ihren Zurufen Ordnung in den Zug bringen konnten. Dann betrat ich, mühsam mein Gepäck schleppend, über eine kurze Gangway die Titanic. Ein prüfender Blick des Offiziers am Eingang auf meine Schiffspapiere, dann ließ er mich mit einem flüchtigen Gruß mit der Hand an die Mütze passieren.
     
    Aufgeregt betrat ich das Innere dieses Märchenschiffes.
     
    „Amarnis!“, hörte ich eine laute Stimme rufen. Obwohl ich diesen Namen noch niemals gehört hatte, war etwas in meinem Inneren, das mich aufschreckte. Angestrengt spähte ich in die Richtung, aus der dieser Ruf gekommen war.
     
    Und dann sah ich sie zum ersten Mal - die hochgewachsene Gestalt des unheimlichen Mannes. Noch heute steigt dieses Bild jede Nacht erneut in meinen Träumen auf. Und diese Träume erwecken in mir Gefühle, in denen sich Angst mit Sehnsucht paart. Auch die sechzig Jahre, die seither vergangen sind, vermögen nicht, dieses Bild aus meinen Erinnerungen zu verwehen.
     
    Damals ahnte ich nicht, dass mir die dunkle Macht gegenüberstand, der alle Menschen am Ende ihrer Tage folgen müssen. Niemals hätte ich geglaubt, dass der Gnadenlose leibhaftig unter den Todgeweihten wandelt, denen er bald den Weg in die ewige Nacht weisen wird ...
     
                                                                                                      ***
     
    „Amarnis!“ hörte ich wieder den Ruf des geheimnisvollen Fremden.
     
    Seine Gestalt strahlte eine Aura unheimlicher Majestät aus. Unwillkürlich zog sich alles in mir zusammen. Es war eine ungreifbare Beklommenheit, die mich erfasste, als ich sah, wie seine Augen auf mir ruhten. Die dunkle Gestalt stand ungefähr fünf Schritte hinter dem Schiffsoffizier, der die Billetts für die Passage kontrollierte. Ich spürte, wie der Blick seiner Augen bis tief hinab auf den Grund seiner Seele drang.
     
    Ich hatte das Gefühl, als würde mir den Boden unter den Füßen weggezogen. In diesem Augenblick hatte ich alle Mühe, aufrecht stehen zu bleiben. Doch außer mir schien niemand der sich an Bord drängenden Menschen etwas zu bemerken. Es war, als würden sie die unheimliche Gestalt auf der Titanic überhaupt nicht wahrnehmen.
     
    Die aristokratische Erscheinung war hochgewachsen und überragte mich um mehr als eine Haupteslänge. Der Fremde trug einen altertümlichen schwarzen Radmantel, der bis zu seinen Füßen hinab fiel. Der schwarze Gehrock darunter war sicher das Meisterwerk eines erstklassigen Schneiders. Das blütenweiße Hemd wurde am Hals mit einer schwarzen Fliege geschlossen. Eine feingliedrige Hand stützte sich leicht auf einen Spazierstock, an dessen oberen Ende sich ein Knauf aus mattschimmerndem Silber befand.
     
    Vom Gesicht des Mannes ging eine unheimliche Faszination aus. Schwarzes Haar quoll unter dem Zylinder hervor und wallte bis auf die Schultern hinab. Wie ein Schleier umrahmte es ein bleiches, schmales Antlitz, das keine Bestimmung des Alters zuließ. Die Wangen waren glatt rasiert und die Nase etwas zu klein. Die buschigen Brauen über den schwarzgrauen, melancholischen Augen waren zusammengewachsen und gaben dem Fremden ein unheimliches, fast dämonisches Flair.
     
    Die ganze Erscheinung ließ Ängste in mir aufsteigen, die ich vorher noch niemals gekannt hatte. Und dennoch war mir dieser Mann vom ersten Augenblick an so vertraut, als sei er bereits seit dem Tage meiner Geburt an meiner Seite gewesen. Oder als sei habe er bereits in einem früheren Leben meinen Weg gekreuzt.
     
    In den Augen des Fremden lag ein hypnotischer Zwang, dem ich nicht entgehen konnte. Ich musste ihn ansehen und spürte, wie der Unheimliche auf den Grund meiner
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