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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie brauchte Gewissheit.
    „Entschuldigung, Frau Bigalke, aber ich habe eben erfahren ... können Sie mir bitte sagen, was passiert ist?“
    „Det weeß ick doch ooch nich. Die hat ja nie wat erzählt. Aber die Frau, die die Katzen abjeholt hat, die hat wat von Krebs jesaacht. Darmkrebs. Hat ja ooch nich zu knapp jefuttert, die Frau Lessing.“
    „Frau Bigalke, wissen Sie, auf welchem Friedhof die Beerdigung stattgefunden hat?“
    „Nö. Ick war ja nich einjeladen. Un nu jute Nacht! Kieken se det neechste Mal uff de Uhr!“
    Carly starrte den Hörer an. Wie sollte sie sich denn nun von Teresa verabschieden?

    Sie tat, was sie in Notfällen immer tat. Sie rief Orje an. Der hatte nie etwas an einer Uhrzeit auszusetzen.
    „Was ist passiert?“
    Sie erzählte ihm alles, so gut sie es in Worte bekam. Er hatte Teresa gekannt. Oft hatten sie sie zusammen besucht.
    „Kannst du kommen? Mit Friederike? Wir müssen auf den Friedhof!“ Er hörte die zitternden Ausrufezeichen in ihrer Stimme.
    „Ich bin gleich bei dir. Zieh dir eine Jacke an!“
    Er hatte nicht gesagt: „Was, jetzt gleich?“ oder „Mitten in der Nacht? Das kann doch bis morgen warten.“ Er sagte nur: „Zieh dir eine Jacke an!“, weil er wusste, dass sie das sonst vergessen hätte.
    Warum nur konnte sie diesen Mann nicht lieben?
    Sie griff nach der erstbesten Jacke, schnitt von Abrahams Ranken die allerschönste Rose ab und wartete auf den Treppenstufen, die Arme um die Knie geschlungen. Sie dachte an früher.
    Der Tod war also doch wieder unter dem Teppich hervorgekommen.

    Dabei hatte Carly den Teppich entsorgt, als sie die Wohnung übernommen hatte, weil Tante Alissa einen Österreicher geheiratet und mit ihm auf einen Berg gezogen war.
    „Das hat sie nur gemacht, weil sie dort vor dem Meer in Sicherheit ist“, hatte Ralph boshaft bemerkt. „Ich wette, der arme Kerl weiß gar nichts von ihrer Meerphobie und dass er nur Mittel zum Zweck ist.“
    Nun, Ralph verstand nichts von Liebe. Tante Alissa war endlich glücklich mit ihrem Franzl, und nicht nur weil sie auf einem Berg wohnte.
    Die Sache mit der Teppichentsorgung war Carlys Bedingung gewesen, obwohl Alissa natürlich nicht ahnte, warum. Der Tod war zu oft auf geheimnisvolle Art unter dem Teppich hervorgekrochen, egal wie fest Carly die Fransen getreten hatte.
    Einmal wegen Valerie, die sie aus der Vorschule kannte. Carly und Valerie waren jahrelang unzertrennlich gewesen, hatten lange barfüßige Sommernachmittage zusammen lesen gelernt, Murmelbahnen gebaut und Wasserschlachten veranstaltet. Valli besaß ein Lachen, das sich durch die Tage zog wie die silbernen Spinnwebfäden im Herbst. Es endete unweigerlich mit einem lustigen kleinen „Hicks“. Bis Valeries hüpfender Schritt sich, als sie elf Jahre alt war, an einer Straßenecke mit der ebenfalls überschäumenden Lebensfreude eines jungen Mannes auf seinem ersten Motorrad traf.
    Carly hörte seitdem niemals mehr ein Kinderlachen, ohne unwillkürlich auf dieses „Hicks“ zu warten, das nicht kam.
    Später war es Amal, der indische Nachbarsjunge. Amal war für Carly der große Bruder, der Ralph nicht mehr sein konnte, weil er ausgezogen war und in einer fremden Stadt studierte. Amal half ihr mit den kleinen Pflichten: Blätter zusammenkehren, Fußmatten ausklopfen. Er erklärte ihr die Mathehausaufgaben, wenn Tante Alissa überfordert war. Er erzählte ihr Geschichten und er verjagte die älteren Mädchen, die Carly hänselten, weil sie in der Hausmeisterwohnung wohnte. Wenn Carly etwas angestellt hatte, bezauberte er sogar Tante Alissa mit seinen nachtschwarzen Augen und seinen Grübchen, bis Carly verziehen war, weil in Amals Gegenwart niemand grollen konnte.
    Doch Amal fuhr jeden Sommer mit seiner Familie nach Indien, und auf einer dieser Reisen sank die Fähre, auf der sie unterwegs waren.
    Tante Alissa fühlte sich bestätigt in ihrer Überzeugung, das Meer sei zutiefst böse. Carly aber befürchtete, dass sie nicht richtig auf die Fransen aufgepasst hatte.
    Als Tante Alissa ausgezogen war, nahm die Müllabfuhr den Teppich endlich mit. Der riesige, knallorangene Wagen fraß ihn fauchend auf, mitten in der erwartungsvollen Stille eines gewitterschweren Morgens. Ralph und sein Freund legten danach brummelnd Laminat. Carly wollte keine Teppiche mehr in ihrer Wohnung. Weder mit noch ohne Fransen. Dass das alles leider nichts mehr nützte, weil sie erwachsen war, war ihr klar
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