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Das mechanische Herz

Das mechanische Herz

Titel: Das mechanische Herz
Autoren: Dru Pagliassotti
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das Trägerwrack auf den Boden krachte.
    Einen Moment lang stand Taya auf den breiten Treppenstufen der Wache und fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, den geborstenen Stützpfeiler sicher zu Boden zu lassen. Sie war froh, dass sie auf ihren Wegen von einem Sektor zum anderen nicht auf die Drahtfähre angewiesen war. Sicher musste man jetzt viele Kabinen umleiten, um die Unfallstelle zu umgehen, und eine Menge wichtiger Leute würden sich auf ihrem Heimweg drastisch verspäten.
    Ein paar Schaulustige begannen zu jubeln. Sie sah sich um und erkannte, dass man ihr zuwinkte! Peinlich berührt hob sie die Hand, eine Geste, die schwachen Applaus hervorrief.
    Taya, der es unangenehm war, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, humpelte hastig zum Grundpfeiler eines Drahtfährenturms hinüber. Sollte sie auf Pyke warten? Aber wusste sie denn, wie lange der für seine Aussage brauchte? Sie grinste. Bekamen die Liktoren erst einmal mit, was ihr Freund von Amtspersonen hielt, dann beschlossen sie vielleicht, ihn über Nacht dazubehalten!
    Die Liktoren am Fuß des Turms erlaubten ihr, auf die unterste Plattform zu steigen, die sich gerade einmal fünfzehn Meter über dem Boden befand. Hoch genug. Taya ließ ein letztes Mal die Schultern kreisen, um die Muskeln zu lockern, streifte Fliegerhaube, Schutzbrille und Handschuhe über und schob unter heftigem Protest sämtlicher beteiligter Muskeln die Arme in die Flügel. Nachdem sie die Schwingen mit einer raschen, rückwärts gerichteten Schulterbewegung entsichert hatte, rannte sie zum Rand der Landefläche.
    Die Bürger unter ihr klatschten, als hätten sie noch nie eine Ikarierin losfliegen sehen. Taya verzog das Gesicht, klappte die Flügel weit auf und suchte nach einem Thermalwind, der sie in die Lüfte heben sollte, weit weg von geborstenen Pfeilern und neugierigen Blicken.

Kapitel 1

    T aya legte die Flügel schützend um sich, als die Eisenstreben eines Drahtfährenturms vor ihr aufragten, fächerte sie dann auf und flog langsam näher heran. Das gewaltige Bauwerk hielt den schneidenden Wind ab, und mit einem leisen Seufzer der Erleichterung spürte sie den Tragbalken unter ihren dicken Stiefelsohlen. Sie zog die Knie an und ging in Kauerstellung, um den Aufprall abzufedern, zog den Kopf ein, faltete die Arme mit den Flügeln daran zusammen und duckte sich in den sicheren Hafen.
    Die Drähte summten im scharfen Wind. Er ließ das Metall unter ihren Füßen erzittern und vibrieren, selbst der Turm als Ganzes schwankte leicht. Sie nahm sich einen Moment Zeit, das Fluggeschirr in Ruhestellung – Schwungfedern abgespreizt und Flügel angelegt – einrasten zu lassen, ehe sie die Arme aus den Lederriemen löste und sich mit einer am Geschirr befestigten Leine sicherte, die sie um eine der schmalen Verstrebungen des Tragbalkens schlang und an ihrem Gürtel festhakte.
    „Schon besser!“, stöhnte sie, während sie ihre schmerzenden Schultern massierte. Sie nahm die Fliegerbrille ab und wischte sie am Jackenärmel sauber. An den Brillengläsern klebten tote Insekten und die fettige Rußschicht, die sich unvermeidlich darauf legte, sobald Taya über eine der zahlreichen Raffinerien der Stadt flog.
    Der Flug von Tertius hier herauf war normalerweise ein Kinderspiel, sorgten doch die Thermalwinde über den Schmelzöfen für mühelosen Auftrieb. Heute jedoch hatten ihr die Diispirazu schaffen gemacht, die heftigen Winde mit den unberechenbaren Böen, die stets im Spätherbst von den Gipfeln der Yeovil-Bergkette her in die Stadt einfielen. Das Fliegen wurde riskant, wenn die Diispirawehten. Als ihr zuvor eine der Böen den Thermalwind gestohlen hatte, war sie gezwungen gewesen, einer lahmen Ente gleich mit den Flügeln zu schlagen, um nicht völlig abzusacken. Jetzt noch zuckten ihr sämtliche Muskeln in den Schultern, und unter ihrem Fliegeranzug aus Leder fing der Schweiß gerade erst an zu trocknen, der sich durch die Anstrengung auf ihrer Haut gebildet hatte.
    War es noch lange bis Dienstschluss?
    Taya setzte die Brille auf, um ihre Augen vor dem kalten Wind zu schützen, und ließ den Blick über die unter ihr liegende Berglandschaft schweifen. Dicht bebaute Terrassen zogen sich den Hang hinab bis in den düsteren Rußnebel aus den Schornsteinen der Fabriken, die im untersten Abschnitt des Berges lagen. Dieser unterste Sektor der Stadt lag immer im Schatten der Rauchwolken. Dort, in Tertius, schuftete die Kaste der Famulaten in den Bergwerken und Manufakturen, um die
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