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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab
Autoren: Nadja Quint
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das feuchte Laub zwischen den Buchen.
    »Aber hier ist doch ungeweihte Erde«, wunderte Fine sich.
    »Und wenn schon«, Marjann lächelte. »Die Lichter und die Sträuße. Das sind Gaben für die Seelen, die bei Gott sind. Du denkst sicher, mein Bert und seine Kumpanen, die sind ja wegen eines Verbrechens gehenkt worden. Und deswegen hat Gott ihre Seelen nicht zu sich genommen.«
    »Der Vikar sagt das«, wandte Fine zaghaft ein. »Und der Lehrer auch.«
    »Keiner kann das mit Sicherheit sagen. Auch die Gelehrten nicht. Und so lasse ich mir nicht verbieten, meinem Bert an Allerseelen diesen Gruß zu bringen. Wer von uns Menschen will schon mit Gewissheit beurteilen, ob ein Raub in schlimmster Hungersnot richtig ist oder falsch. Darüber mag es einen höheren Richter geben, und wenn es ihn gibt, dann wird er verstehen, dass ich meinen Bert geliebt habe und immer noch liebe. Ganz gleich, ob die Erde, in der er liegt, geweiht ist oder nicht. Sein Grab ist und bleibt sein Grab.«
    Fine schwieg berührt.
    Marjann sprach ein Gebet für ihren Mann und ihre drei Töchter. Auch ihren Sohn Hannes, der schon vor vielen Jahren ausgewandert war, schloss sie in das Gebet ein. Und als sie beim Amen ankam, sagte auch Fine: »Amen.«

Die Briefe
    Hand in Hand gingen sie heim. Inzwischen hatte der Kachelofen ausreichend Zeit gehabt, das Haus zu erwärmen. Beim Betreten der Küche fühlte Fine sogleich eine tiefe Behaglichkeit. Dieses Gefühl steigerte sich noch, als Marjann einen frischen Tee aus getrockneten und zerstoßenen Hagebutten bereitete. Wie jeden Morgen gab es Eier zum Frühstück. Heute, am Feiertag, tischte Marjann auch einen Ziegenkäse auf, den sie selbst geschöpft und im Keller des kleinen Hauses zur Reife gebracht hatte.
    »Bitte, Tante«, meinte Fine, nachdem sie gegessen hatten, »Euer Hannes in Amerika, der schreibt Euch doch immer. Darf ich die Briefe wohl einmal sehen?«
    »Natürlich.« Marjann strich Fine durchs Haar. »Es ist richtig, wenn du mir sagst, was du auf dem Herzen hast. Denn wir wollen einander gut verstehen.«
    Die alte Frau stand auf, ging hinüber zur Schlafkammer und zog eine kleine Truhe unter ihrem Bett hervor. Damit kehrte sie in die Küche zurück.
    Es kam Fine wie ein feierlicher Moment vor, als Marjann den Deckel der Truhe aufklappte und daraus einen Stapel Papier holte, umwickelt mit einem breiten, roten Seidenband. Sie öffnete das Band, darunter kamen alle Briefe zum Vorschein, die Hannes aus Amerika geschrieben hatte. Insgesamt waren es einundzwanzig, und jeden einzelnen Umschlag hatte Marjann noch einmal mit einem schmaleren, grünen Band eingefasst.
    »Rot ist die Liebe, die uns trotz der Trennung immer verbindet. Und grün ist die Hoffnung, dass es ihm gut geht, und die Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen«, erklärte sie die Farben der Bänder.
    Das Papier war mit schwarzer Tinte beschrieben, in einer leicht zu entziffernden Handschrift. Eine stille Begeisterung umfasste das Kind und die alte Frau, während sie Schleife um Schleife lösten und die Briefe lasen. Jeder begann mit den Worten
Portland im Staate Maine, USA
, dann folgte das Datum. Der älteste Brief war beinahe acht Jahre alt, der jüngste erst einige Monate.
    »Portland, das ist eine Stadt am Atlantischen Ozean, dem größten Meer der Erde«, erzählte Marjann. »Hannes arbeitet dort im Hafen. Es gibt viel zu tun, denn die Menschen betreiben einen regen Handel.«
    Unter den Briefen zog Marjann eine Landkarte hervor, die sich breit auffalten ließ. So etwas hatte Fine noch nie gesehen. Sie kannte bisher nur die großen Karten aus der Schule. Man konnte sie an einen hohen Ständer hängen und entrollen. Drei davon gab es im Klassenzimmer: Eine zeigte die Eifel, die zweite das Königreich Preußen und die dritte Europa. Wer etwas über die entfernteren Länder erfahren wollte, musste auf den Globus schauen. Fine hatte zwar eine Vorstellung davon, wo Nordamerika lag, aber hier in Marjanns Küche sah sie zum ersten Mal eine Karte, die das Land in solch großem Maßstab abbildete.
    »Da lebt mein Hannes.« Marjann wies auf die Stadt Portland.
    Portland war die Hauptstadt des Staates Maine, der im Norden an ein anderes Land grenzte. Auch davon hatte Fine schon gehört. Es hieß Kanada und war noch größer und wilder als die Vereinigten Staaten von Amerika.
    Bei allem, was Marjann erklärte, kam Fine nicht mehr heraus aus dem Staunen. Die alte Frau band jeden einzelnen Brief auf. Gemeinsam lasen sie, wie es Hannes in der
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