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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab
Autoren: Nadja Quint
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Sträuße und Lichter schaute, die Marjann vor sich hertrug, konnte das Mädchen verstehen, warum die alte Frau niemandem begegnen wollte. Auch der freundlichste Bewohner des Dorfes hätte in dieser Feierlichkeit nur gestört.
    Zunächst gingen sie zum Grab von Fines Eltern. Das Kreuz aus Vogelbeeren war durch die Kühle der Nacht frisch geblieben. Rot leuchtete es im Morgendunst. Sie setzten zwei Windlichter auf das Grab und blieben dort eine Weile stehen, still versunken, jede für sich im Gebet.
    »Komm weiter«, sagte Marjann schließlich. »Wir gehen zu meinen Mädchen.«
    Fine nickte stumm. Wie alle Leute im Dorf wusste sie von Marjanns drei kleinen Töchtern. Um sie nicht zu verletzen, hatte Fine sie nie darauf angesprochen. Auch Marjann hatte die Rede bisher nicht darauf kommen lassen. Aber an diesem Morgen zeigte die alte Frau keinerlei Befangenheit, als sie Fine zur Ruhestätte der Töchter führte. Das gemeinsame Grab, mehr breit als tief und ganz von Efeu umwuchert, lag gegenüber dem Seitenausgang der Kirche. Sie verharrten in Andacht, bis Marjann zu Fine hinüber sah.
    »Meine drei Kleinen sind fast gleichzeitig gestorben«, sagte Marjann zärtlich und wurde gleich darauf wieder ernst. »An Schwindsucht.«
    »Also ist die Krankheit wirklich so schlimm?«
    »Ja. Viele Kinder starben damals innerhalb von wenigen Monaten. Wir litten unter ständigen Missernten, es ging uns elend. Die Armut brachte den Hunger, der Hunger die Krankheit und die Krankheit den Tod. Es ist ein Wunder, dass Gott mir meinen Hannes gelassen hat. Ich trug ihn damals unter meinem Herzen, als mir mein Mann genommen wurde.«
    Fine nickte. Sie wusste, dass Berthold Kürten ein Räuber gewesen und durch den Henker zu Tode gekommen war. Deswegen wollte sie Marjann nicht näher nach ihm fragen.
    Doch Marjann sprach nun ganz unbefangen von ihm. »Wir wollen auch meinen Berthold besuchen, meinen guten Bert.«
    »Aber wo ist denn sein Grab?«, fragte Fine erstaunt.
    »Nicht auf dem Friedhof, Kind. Das hast du schon richtig erkannt«, Marjann zog bedeutungsvoll die Stirn hoch, doch sie sprach mit milder Stimmen. »Ich weiß, wo er liegt. Auch wenn der Scharfrichter ihn hat verscharren lassen, nicht anders als einen räudigen Hund.«
    Aufrecht trug Marjann das Tablett vor sich her, auf dem noch ein Strauß und ein Windlicht standen. Die Morgendämmerung setzte ein, noch waren die Wege menschenleer. Doch wenn jemand in diesem Moment der Schwarzen Marjann begegnet wäre, hätte er sehen können, dass sie sich nicht für ihr Schicksal schämte.
    Sie gingen zum Dorf hinaus. Fine wusste, wohin Marjann sie führte: Zum Schindanger, einem gerodeten Landstück neben dem Bach. Dort begrub man Vieh und andere Tiere, die der Abdecker nicht nutzen konnte. Auch gehenkte Verbrecher fanden hier ihre letzte Stätte, denn die Erde war ungeweiht.
    Fine war nicht oft hier gewesen. Ihre Eltern hatten sich bemüht, die Kinder vor diesem unwürdigen Platz zu schützen. Wie sie nun über das nebelverhangene, kahle Feld blickte, wurde Fine bang zumute. An der einen oder anderen Stelle ließen sich im Boden dunkle Rechtecke erkennen. Feuchte Erde hob sich von der Umgebung ab. Vermutlich waren hier kürzlich noch Tierkadaver verscharrt worden.
    Fine schauderte bei dem Gedanken, was alles unter der dünnen Deckschicht des sandigen Bodens liegen mochte. Marjann sah wohl, welche Ängste der Ort in Fine entfachte. Wie selbstverständlich und ohne jede Furcht nahm sie das Kind bei der Hand und führte es zu zwei großen Buchen am Rande des Schindangers.
    Nichts wies hier auf ein Grab hin, dennoch sagte Marjann überzeugt: »Darunter liegt er, mein Bert«, sie zeigte auf das kahle Gestrüpp zwischen den beiden Buchen. »Er und seine beiden Kumpanen. Wenn er nicht die Postkutsche überfallen hätte, dann würde er wohl noch leben.«
    Dank Marjanns Sicherheit überwand Fine ihre Furcht und wurde neugierig. »Warum hat er das denn bloß getan?«
    »Nur für das Nötigste«, antwortete Marjann. »Um Brot zu kaufen. Für sich und seine drei Töchter und für mich, seine schwangere Frau.«
    Fine warf ihr einen zweifelnden Blick zu.
    »Ich weiß schon, was du sagen willst, Kind«, in Marjanns Stimme schwang kein Groll. »Viele Menschen haben damals gehungert und dennoch keine Postkutsche überfallen. Dasselbe hat der Scharfrichter auch gemeint, als er meinen Bert dem Strick des Henkers übergab.« Schweigend stellte sie den letzten Strauß Vogelbeeren und das letzte Windlicht auf
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