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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab
Autoren: Nadja Quint
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vollendet hatte, wandelte sich ihr kindlicher Körper hin zu den Formen einer schlanken und dennoch kräftigen, jungen Frau. Sie erblühte in gefälliger Anmut. Dabei lehrte Marjann ihren Zögling, was sich schickte. Die alte Frau achtete auf sittsame Kleidung und flocht Fines Haare jeden Morgen zu einem Zopf. Wenn sie Seite an Seite mit ihr durchs Dorf wanderte, entging es Marjann nicht, dass der eine oder andere Mann einen Blick auf Fines knospende Schönheit warf.
    »Du wirst eines Tages aus all den Männern denjenigen herausfinden, der dich ehrlich liebt«, meinte Marjann dazu. »Doch vorher hüte dich vor ihnen.«
    Und Fine, die mit ihrer Ziehmutter die Dinge des Lebens offen besprechen konnte, war dankbar für Hilfe und Anleitung.
    Bei aller Fürsorge, die sie von ihr empfing, vergaß Fine nicht ihre Eltern. Immer wieder, vor allem des Nachts, rüttelte heftiges Weinen sie auf.
    Dann tröstete Marjann sie: »Weine nur, Kind. Trauer braucht ihre Zeit, und die Tränen helfen dabei. Du wirst niemals vergessen, was du mit deinen Eltern verloren hast. Aber mit den Jahren wird dein Herz leichter sein, wenn du an sie denkst.«
    Mehrmals die Woche besuchte Fine das elterliche Grab. Auch ging sie oft zur Ruhestätte von Marjanns drei kleinen Töchtern.
    Lediglich das eine bestimmte Grab unter der Eiche, das Grab der jungen Lisbeth im hinteren Teil des Friedhofs, nah an der Mauer – dieses Grab entdeckte Fine nicht.
    Im September 1860 jährte sich zum vierten Mal der Todestag von Fines und Bastis Eltern. Die Kinder begingen ihn in aller Stille. Gemeinsam mit den Dorfbewohnern gedachten sie des Hauerfranz und seiner Frau Wilhelmine. Unter den Trauernden fand sich allen voran der Oberdorfbauer als Vormund der Kinder, daneben die Schwarze Marjann und der Ravenzacher. Zusammen beteten sie am Grab.
    Fine befand sich in ihrem letzten Schuljahr, und wie nun der Herbst kam, war ihr oft seltsam zumute. So als kündigten sich große Veränderungen an, die sie noch nicht fassen konnte. Mit träumendem Blick starrte sie in den Himmel.
    Er war in diesem Oktober so hell und so frei von Wolken wie nur selten. Im Dorf blieben die Wiesen lange grün, und der Flachs lag zum Dörren darüber ausgebreitet wie ein feines Netz. Zwischen den trocknenden Halmen lugten in hellviolettem Schimmer die Herbstzeitlosen hervor. Die Raben flogen über die Wiesen hinweg, ihr schwarzes Gefieder glitzerte im Sonnenlicht. Kein Luftzug wehte, die Kühe weideten auf den Stoppeläckern, Peitschenknallen und Singen tönte von den Feldern, und die Bäume schüttelten in sanftem Wind ihre Blätter ab.
    Als der November näher rückte, verabschiedete sich der alte Dorflehrer in den Ruhestand, denn er hatte sein siebzigstes Lebensjahr vollendet. Ein neuer Lehrer war gekommen, der am Pädagogischen Seminar in Bonn soeben seine Ausbildung beendet hatte. Er war noch jung und sah so aus, wie man Lehrer im Bilderbuche zeichnete: Er trug kurze, braune Locken, einen kleinen Spitzbart und eine gerundete, golden umrahmte Brille. Er hieß Schneider. Die Kinder mochten ihn, denn er war durchaus streng, dabei aber freundlich und wohlwollend. Wenn es nötig war, ermahnte er sie, doch im Gegensatz zum alten Lehrer schlug er sie nicht. So blieb der Rohrstock die meiste Zeit neben dem Pult stehen und wurde nur dort gebraucht, wo es an der Tafel etwas zu zeigen gab.
    Anfangs kannte der Lehrer Schneider sich noch nicht im Dorfe aus. Überhaupt war es ganz ungewohnt für ihn, auf dem Land zu leben, denn nicht nur seine Studienzeit, auch seine Kindheit und Jugend hatte er in Bonn verbracht. Um sich selbst rascher im Dorf einzuleben, wandte er eine neue Lehrmethode an. Für die Kinder war dies unüblich, denn der frühere Lehrer hatte es nie so gemacht. Doch als Herr Schneider ihnen sagte, was er vorhatte, stimmten sie begeistert zu: Einen Teil des Unterrichts wollte der neue Lehrer nicht im Klassenraum, sondern an anderen Orten im Dorf abhalten. Damit schlug er mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er selbst lernte das Dorf kennen und erfuhr auch gleich, welches Kind in welchem Haus wohnte. Und er konnte die Erklärungen der Kinder mit dem Lernstoff verbinden. So nutzte er die Erkundungen des Dorfes als lebendigen Unterricht in Heimatkunde und Geschichte.
    Einige Tage vor Allerheiligen ging Herr Schneider mit den Kindern auf den Kirchhof. Umringt von vierzig Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren stand er zwischen den Grabreihen. Gemeinsam traten sie an manche Ruhestätte. Er ließ
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