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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Autoren: Rebecca Hohlbein
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wiederholte Froh noch immer voller Ehrfurcht, aber nicht mehr ganz so ängstlich wie noch vor einigen Atemzügen, denn sie zitterte noch immer, und er musste wieder daran denken, dass sie gerade fast vor seinen Augen ertrunken wäre. Die Schwäche, die er da unzweifelhaft ausmachte, raubte ihr ein bemerkenswertes Stück Göttlichkeit. »Du bist keine von uns«, stellte er darum vorsichtig fest. »Und doch sprichst du meine Sprache.«
    »Ich spreche jede Sprache«, verbesserte ihn die Vielleicht-Doch-Nicht-Göttin.
    »Weil du …«, begann Froh, dessen Gedanken im Begriff waren, sich im Kreis zu drehen.
    Aber die Goldhaarige unterbrach ihn mit einem erschöpften Wink. »Weil ich eine Sprachkundige bin«, erklärte sie, schüttelte den Kopf und schloss die Augen wieder. »Oder geworden wäre «, betonte sie, »wenn nicht … hätte nicht …«
    Sie verstummte, und die Muskeln in ihren Kiefern und ihrer Stirn begannen sichtlich zu arbeiten. Das Zittern nahm zu, bis es eher ein Beben war, das sie schüttelte, und plötzlich quollen große, glitzernde Tränen zwischen ihren geschlossenen Lidern hindurch, rannen ihre hellen Wangen hinab und hinterließen schmale, rötliche Pfade.
    Nun war es Froh, der sie mitfühlend betrachtete. Eine kleine Weile wusste er nicht, wie er reagieren sollte, und schaute ihr hilflos beim Weinen zu. Dann streckte er zaghaft eine Hand nach ihren nackten Füßen aus und berührte vorsichtig ihre Zehen, die neben seinen rauen, klobigen Fingern so zerbrechlich wirkten wie zarte weiße Blütenblätter.
    »Götter weinen nicht«, flüsterte er sanft.
    Chita blinzelte ihn durch den Tränenschleier hindurch an. Dankbar streckte sie eine Hand nach ihm aus, und er half ihr, sich halb aufzusetzen, zog umständlich einen der beiden Tonkrüge, die er besaß, unter dem Fischsack hervor, und löste den Korken. Das Regenwasser, das sich mit den längst faden Kräutern der Fischer darin befand, sollte den Geschmack von Salz, Fisch und Plankton aus ihrem Mund vertreiben. Um auch ihren Durst zu stillen, würde es wahrscheinlich nicht mehr reichen.
    »Vom Medizinmann«, erklärte er trotzdem stolz, als sie nach dem ersten Schluck überrascht auf den kleinen Krug in ihren Händen hinabblickte.
    Geräuschvoll, aber lächelnd zog sie die Nase hoch. »Bist du auch ein Medizinmann?«, erkundigte sie sich. »Oder möchtest du einer werden? Bist du so etwas wie ein Novize?«
    Froh lachte auf. Sie stellte Fragen – und vertrieb damit auch die letzten Zweifel an ihrer Menschlichkeit aus seinen Gedanken.
    »Der größte von allen!«, behauptete er mit einer ausholenden Geste und zwinkerte ihr schelmisch zu. »Du sitzt auf einem Sack voller magischer Fischkadaver, mit denen man Krankheiten heilen und Götter herbeibeschwören kann … Nein«, winkte er ab, als Chita zweifelnd auf den stinkenden Sack hinabblickte. »Ich bin nur ein einfacher Fischer. Aber das Herbeibeschwören von Göttern hat ja trotzdem ganz gut geklappt.« Er grinste schief. »Mein Name ist übrigens Froh.«
    »Dein Name freut sich?«
    »Nein. Man nennt mich Froh«, verbesserte Froh sie. »Selbstverständlich habe ich auch einen richtigen Namen. Aber der ist so lang und grässlich, dass ich ihn mir selbst kaum merken kann. Meine Mutter jedenfalls ruft mich Froh, seit ich denken kann. Bei uns in der Familie ist es Sitte, die Kinder in ihrem dritten Lebensjahr mit einem zusätzlichen Namen zu beehren, der sie beschreibt und es den Eltern erlaubt, ihn kurz und knapp an Kommandos und Flüche anzuhängen. Weil sich die Kinder am Anfang lange an den neuen Namen gewöhnen müssen, hören sie ihn dann auch entsprechend häufig am Ende eines Fluchs …«, führte er leicht verlegen aus. »Na ja. Der Name meiner Mutter ist auf jeden Fall Flink – sie entstammt einer Familie aus den Jagdgründen. Und mein Vater wird Laut genannt. Er ist Salzwasserfischer, wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Ich habe drei lebende Brüder und eine lebende Schwester, die inzwischen bei den Webern wohnt. Die Frau meines ältesten lebenden Bruders ist allerdings tatsächlich eine Tochter des Medizinmanns. Sie sollte uns Gesundheit und Wohlstand bescheren und hat uns den Fang einer halben Regenzeit gekostet, aber bislang hat sie uns nur zwei weitere hungrige Mäuler eingebracht.«
    Er lachte. Es tat so gut, die eigene Stimme wieder zu hören. Und die Unbekümmertheit, die er sich für einen Moment erlaubte, schien ansteckende Wirkung zu haben: Als würde sein Lachen eine Handvoll
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