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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Autoren: Rebecca Hohlbein
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uns auf irgendetwas spezialisiert, und es ist ein mehr als glücklicher Zufall, dass ich ausgerechnet eine Sprachkundige bin, denn andernfalls würde sich unsere kleine Reise als recht eintönig erweisen. Noch eintöniger, meine ich.
    Auch dein Medizinmann weiß vieles nicht. Darum macht er uns, seine vermeintlichen Götter, dafür verantwortlich, obwohl die Natur ganz sicher nicht uns, sondern ausschließlich mathematischen und chemischen Gesetzen gehorcht. Allein, dass mein Volk ein paar mehr davon ergründet hat, lässt hier und da den Anschein entstehen, dass wir die Natur beherrschen.
    Aber das tun wir nicht. Wäre dem so, dann hätte die Welle nicht ganz Kantorram, vielleicht sogar ganz Montania verschlungen. Dann hätte sie mich nicht ins Meer hinausgespült, und du hättest mich nicht gefunden.
    Als Kind habe ich allerdings oft am Strand gestanden und mir vorgestellt, das Meer zu beherrschen. Eine Idee, die nicht von ungefähr kam.
    »Wir«, pflegte meine Mutter dann und wann zu sagen, »beherrschen das Meer.«
    Und dabei glänzte unermesslicher Stolz in ihren eisblauen Augen. Wenn der Wind zudem mit dem blau und grün schimmernden, glänzenden Stoff ihres Gewands spielte, das sie als Mitglied der Faronenfamilie auswies, dann wirkte ihre Erscheinung tatsächlich wie ein menschgewordener Teil der See, als hätte nicht meine Großmutter, sondern das Meer selbst sie geboren.
    Nein, mein Kleid ist nicht blau. Aber das ist eine lange Geschichte.
    Meine Mutter ist eine wunderschöne Frau. Selbst nach fast vierzig Wintern. Ihre Schönheit begeisterte nicht nur meinen Vater, dessen Familie und das Volk, das ihr untertan war, nachdem mein Vater sie zu sich geholt hatte, sondern fiel sogar mir, ihrer eigenen Tochter, immer wieder auf, obwohl ich sie fast täglich sah. Selbst dann, wenn sie kränkelte und mit geschwollenen Augen und aschfahler Haut darnieder lag, bis die Medizin des Körpermeisters seine Wirkung tat, war sie noch schön – die schönste Frau im Palast, in der Stadt, auf der Insel, in unseren Staaten – vielleicht sogar auf der ganzen Welt, wie mein Vater dann und wann behauptete.
    »Irgendwann wirst du genauso schön sein wie deine Mutter«, neckte mein Bruder mich ab und an, »obwohl du den Eierkopf deines Vaters geerbt hast.«
    Als er das zum ersten Mal zu mir sagte, stand ich an unserem Strand und spielte Herrscherin der Wellen.
    An eurem Strand? Wie könnt ihr einen Strand besitzen, wenn ihr keine Götter seid?
    Alles eine Frage der Perspektive. Ich weiß, bei euch ist es anders. Ihr könnt eine Hütte auf einem Stück Land errichten und allen anderen verbieten, diese Hütte zu betreten. Aber ihr würdet euch nie anmaßen zu behaupten, dass das Land, auf dem die Hütte steht, euer Eigentum ist. Dass niemand eure Ernte stiehlt, liegt bloß daran, dass niemand Lust hat, eure Arbeit zu tun. Doch eigentlich gehört alles, was die Natur ist und hervorbringt, nur euren Göttern. Also uns.
    Wir hingegen errichten einen Zaun oder eine Mauer um den Grund herum, der uns nach unseren Gesetzen gehört, und dann erheben wir Anspruch auf alles, was dort steht, wächst oder lebt. Sogar auf die Menschen.
    Das ist respektlos.
    Ansichtssache.
    Jedenfalls stand ich an unserem Strand und sah auf das Meer hinaus. Es war der siebte Sommer meines Lebens. Ich erinnere mich genau, denn bei uns ist das siebte Lebensjahr ein ganz besonderes Jahr. Es wird mit einem großen Fest zelebriert, selbst in der Unterschicht. Eltern verschulden sich auf Jahre bei ihren Freunden und Nachbarn, um ihren Kindern, die jetzt als vollwertige Menschen gelten und sich ebenso an die Regeln und Gesetzte zu halten haben wie alle anderen auch, eine unvergessliche Feier zu bereiten.
    Gehört man, wie ich, zudem der Oberschicht an, bekommt man sein erstes eigenes Pferd und wird einem Lehrmeister zugeteilt, der einen fortan auf Schritt und Tritt begleitet. Nur jeder siebte Tag steht von da an noch zur freien Verfügung, und dies war ein solcher siebter Tag.
    Das Reiten hatte mir von Anfang an keinerlei Schwierigkeiten bereitet – entweder war ich, wie mein Lehrmeister behauptete, außergewöhnlich talentiert, oder ich hatte einfach das beste Pferd der Welt.
    Was ein Pferd ist?
    Ein Huftier, so groß wie ein Büffel, aber gelehrig wie ein Hund. Na ja. Fast jedenfalls.
    Mein erstes Pferd hieß Freiheit. Diesen Namen hatte ich selbst ausgesucht, denn das war das, was mir als Erstes durch den Kopf schoss, als ich auf seinen Rücken kletterte und all
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