Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Titel: Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)
Autoren: Erik Kellen
Vom Netzwerk:
und der Zahn kullerte durch ihre Speiseröhre wie fallengelassenes Spielzeug auf einer Treppe. A trat, schlug zurück, hörte überraschtes Keuchen, dann Fluchen. Fingermann schrie wie ein tanzendes Teufelchen. Sie würgte und der Zahn flog im hohen Bogen davon.
    »Ich hab ihr die Zähne ausgeschlagen, ich hab ihr die Zähne …« Stille. Einen langen Moment dachte sie, es wäre ein Traum, alles nur ein furchtbarer Traum. Ein letzter Schlag. Blut lief in ihr linkes Auge, brachte den Sonnenaufgang direkt zu ihr. ›Sei gegrüßt, du heller, schöner Stern. Wie hab ich dich vermisst. Sah deine Kinder in der Nacht ihr Rennen laufen. So wie´s immer schon gedacht ...‹ Ein Stiefel presste sich auf ihr Gesicht, drückte es tief in den Schotter. A schnaufte gegen die genagelte Sohle. Sie stank. Eine Träne gesellte sich zu dem Sonnenaufgang, machte ihn rosa.
    »Wenn du dich noch einmal rührst, lass ich dich hier mitten auf dem Hof verrecken, klar?«
    Da ließ sie los, sie konnte nicht mehr, nickte nur noch weinend. Der Stiefel gab A frei. Sie versuchte aufzustehen, man griff ihr grob unter die Arme, zog sie hoch. Sie wurde mehr getragen, dennoch machte A die Schritte irgendwie mit, auch wenn es nur noch ein Schlurfen war.
    Eine breite Treppe führte zwischen den beiden Türmen hinauf. Der Boden bestand aus rissigen Platten, auf denen vom Regen abgerissene Blätter und Zweige lagen. Ein kurzer, überdachter Gang, dann kam eine mechanische Tür, wie A sie noch nie gesehen hatte. Es war ein dunkles, quadratisches Gebilde aus dicken Holzbohlen, zusammengepresst durch unzählige Eisenbänder, die mit buckligen Nieten verstärkt waren. In der Mitte prangte wieder das Emblem mit dem dramatischen Flügel, der jetzt aus der Nähe aus lauter spitzen Zacken geschmiedet schien. Fingermann zog an einer Kette, die aus der Turmwand hing und wischte sich die Nase am Ärmel. Plötzlich erwachte über ihnen ein Wächterauge im Mauerwerk, zog seine metallischen Lider zurück und musterte sie durch seine glänzende Linse. Offenbar zufrieden mit dem Anblick schloss es sich wieder und dann begann das Emblem sich zu drehen. Seine Zacken griffen ineinander, als würde der Flügel seine Federn anlegen. A hörte aus dem Innern der Tür, wie Zahnräder ihre Arbeit aufnahmen, wie Verschlüsse klackend zurückschnappten. Dies war ein mit Magie gefüttertes Tor. Wen hatte man hier einst eingesperrt, dass man solch einen Aufwand betrieb? Und wenn auch das Gebäude selbst schon signalisierte: ›Hier kommst du nicht mehr raus‹, so ließ dieses Tor darüber keinen Zweifel mehr aufkommen. ›Wenn du hier hindurch kommst‹, so flüsterte es ihr zu, ›bist du nicht länger Teil dieser Welt. Denn du gehörst jetzt mir.‹
    Einen Herzschlag lang wollte A erneut fliehen, doch es war keine Kraft mehr in ihr. Sie war in dem Moment leck geschlagen, als sie in die regennasse Gasse gesprungen war. Jetzt war nichts mehr da, nur noch Müdigkeit und eine stille, stetige Angst, die zwar noch von den Schmerzen zugedeckt war, aber sie konnte sie bereits darunter wahrnehmen. A war ihr Leben lang unter freiem Himmel aufgewachsen, mit Horizonten, die so weit gewesen waren, dass man glaubte, das letzte lebende Wesen auf Erden zu sein. Und nun schleppte man sie in diesen Schlund aus Wänden. Die Tür schwang nach innen auf und ein langer Gang tat sich vor ihr auf, bräunlich beleuchtet von in den Wänden eingelassenen Salzsteinen. Das erste, was A auffiel, war der ungewöhnliche Boden. Er bestand aus einer einzigen durchgehenden Steinplatte, in die hunderte, wenn nicht gar tausende kleiner Löcher gebohrt waren. So etwas hatte sie bisher nur einmal gesehen, als sie mit ihrem Vater das kleine Königreich Moche weit im Süden besucht hatte. Dort hatte man einen Weg aus dem archaisch aussehenden Umriss eines Kolibris mit einem nur aus einem Stück bestehenden Stein nachgebildet. Er war so alt, dass niemand eine Erklärung dafür hatte, nur dass er aus Magie geformt sein musste. Dieser Steinweg hatte ebenfalls Löcher gehabt, so viele wie die Sterne, so kam es ihr damals vor. Doch seinen Zweck hatte niemand je ergründen können. Staunend war A den Weg entlanggegangen, bis sie an seinem Ende im Auge des Kolibris gestanden hatte. Zurückgeblieben war nur ein verlorenes Gefühl, etwas verstanden zu haben, von dem man nicht wusste, dass es überhaupt verstanden werden musste. Jetzt schritt sie wieder über einen solchen Weg und verstand gar nichts mehr.
     

Die graue
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher