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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris
Autoren: Ana Veloso
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zurückgezogen.
    Sie hatte ihre Geschichte zu Ende erzählt, sie hatte ihnen ihren Schatz gegeben und sie mit einer Mission betraut. Sie hatte alles weitergegeben, was sie zu geben hatte – und dann war sie, wie ein dem Tode geweihtes Tier, das sein Ende nahen spürt, an irgendeinen Ort gegangen, wo sie in Frieden sterben konnte. Lua war sich ziemlich sicher, dass sie sich dem Meer überantwortet hatte, dem großen Atlantischen Ozean, der zum Grab ihrer kleinen Tochter geworden war und der sie von ihrem geliebten Afrika trennte. Sie würde außerdem Sorge dafür getragen haben, dass man ihren Leichnam nicht fand – und was würde einen verlässlicher verschlucken als das Meer?
    »Du musst es José mitteilen«, sagte sie zu Zé, nachdem sie ihm ihre Folgerungen auseinandergesetzt hatte. »Er liebt sie, schon seit Jahrzehnten. Er sollte wissen, dass sie als glückliche Frau gegangen ist, die ihr bescheidenes Ziel erreicht zu haben glaubte.«
    »Warum sollte sie sich ausgerechnet jetzt das Leben nehmen?«, gab Zé zu bedenken. »Da hätte sie doch noch abwarten können, ob es uns gelingt, ihren Enkel zu finden. Nur ein paar Monate länger, und sie hätte ihn womöglich in ihre Arme schließen können.«
    Lua zuckte mit den Achseln. »Vielleicht litt sie an einer Krankheit und wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Ich fürchte, das werden wir nun nie mehr erfahren.«
    »Vielleicht ist sie aber auch gar nicht tot, sondern hatte auf dem Weg hierher einen Unfall. Vielleicht ist sie gestürzt und liegt seit Tagen hilflos im Unterholz.«
    »Ich glaube das nicht. Aber wenn es dich beruhigt, können wir die Strecke ja einmal absuchen.«
    Das taten sie dann auch, aber wie nicht anders zu erwarten, fanden sie Kasinda nicht. Was sie hingegen entdeckten, war eine jener typischen Kerben im Baum, wie sie auch Zé genutzt hatte, um anderen Flüchtlingen den Weg zu seinem Quilombo zu weisen. Diese Kerbe wies direkt gen Osten. Nach Afrika.
    Lua bekreuzigte sich, während Zé irgendeine seiner afrikanischen Formeln murmelte. Sie starrten eine ganze Weile auf das Meer hinaus und gedachten einer großartigen Frau, die stärker und mutiger gewesen war als irgendeine andere Person, die sie kannten. Lua wünschte ihr, dass sie nun in der Welt der Ahnen, in die sie eingezogen war, ein besseres Schicksal erwartete, eines, das ihrem außergewöhnlichen Charakter gerechter wurde als jenes zu Lebzeiten. Kasinda verdiente es, eine Königin zu sein.
    Mit hängenden Schultern und in Gedanken versunken gingen sie zurück zu ihrem Versteck.
    »Eines Tages«, so sagte Lua traurig zu Zé, »werde ich dir ihre Geschichte vorlesen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, Lua, eines Tages werde ich sie selber lesen. Denn du wirst mir Lesen und Schreiben beibringen.«
    Ein breites Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. »Liebend gern.«
    Am Abend desselben Tages erhielt er die erste Lektion. Es war eine wundervolle Vollmondnacht, und nachdem sie eine Weile nachdenklich die riesige weiße Kugel inmitten der unzähligen glitzernden Sterne angestarrt hatten, nahm Lua Zé bei der Hand. Sie führte ihn den Strand hinab, bis dorthin, wo der Sand feucht war. Mit dem Fuß zeichnete sie drei Buchstaben hinein. L – U – A. »Lua – Mond«, sagte sie. »Siehst du, es ist ganz einfach. Schreib es nach.«
    Er kopierte die Buchstaben ziemlich geschickt. Dann zog er sie an sich und raunte ihr mit rauher Stimme ins Ohr: »Lua.« Es klang, als würde er staunend vor einem großen Naturwunder stehen, ein wenig ungläubig und sehr andächtig. Sie küssten sich und sahen einander dann tief in die Augen. »Komm«, flüsterte er, und sie folgte ihm bereitwillig.
     
    Als Eulália schließlich zurückkehrte, war es, obwohl sie doch so lange darauf gehofft hatten, unerwartet. Sie erwischte die beiden kurz nach dem Liebesspiel, und obwohl sie sich schnell etwas übergeworfen hatten, gaben ihre verschwitzten Leiber und zerzausten Haare beredt Auskunft über ihr Tun.
    »Oh, ich … äh, ich komme besser später noch einmal wieder.« Sinhá Eulália schaute verlegen.
    »Nein, bleibt!« Der Gedanke, sie könne fortgehen und erst in einigen Tagen wiederkehren, war Lua unerträglich. Sie hatten mehr als eine Woche zermürbenden Wartens hinter sich. Jetzt wollten sie wissen, ob und wie Eulália ihre Aufgabe gemeistert hatte. Lua fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schlüpfte rasch in ihr Kleid, während Zé, nur mit einem Tuch um die Hüften, um die Ecke
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