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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill
Autoren: Madeline Miller
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Nacht betrachtete ich den abnehmenden Mond, so lange, bis ich ihn auch mit geschlossenen Augen sehen konnte, als gelbe Sichel vor meinen dunklen Augenlidern. Ich hoffte, sein Anblick würde mir das stets wiederkehrende Bild des Jungen ersparen. Unsere Mondgöttin hat Zauberkräfte und Macht über die Toten. Wenn sie es wollte, konnte sie auch meine Alpträume bannen.
    Sie tat es nicht. Der Junge kam, Nacht für Nacht, mit starrem Blick und zerschmettertem Schädel. Manchmal drehte er sich um und zeigte mir das Loch im Kopf, aus dem die weiche Masse seines Gehirns hervorquoll. Ich wachte jedes Mal auf, atemlos vor Entsetzen, und starrte ins Dunkel, bis es hell wurde.

Viertes Kapitel
    D as einzig Erleichternde waren für mich die Mahlzeiten im Speisesaal. Unter dem hohen Gewölbe fühlte ich mich nicht so eingeengt, und hier verstopfte mir nicht der Staub vom Exerzierplatz die Kehle. Das Stimmengemurmel und Klappern von Geschirr beruhigten mich. Ich saß allein vor meinem Essen und konnte wieder frei atmen.
    Und ich hatte Gelegenheit, Achill zu sehen. Er verbrachte seine Tage woanders und ging als Prinz Pflichten nach, mit denen wir anderen nichts zu tun hatten. Aber die Mahlzeiten nahm er immer mit uns zusammen ein, mal an diesem, mal an jenem Tisch. In der großen Halle leuchtete seine Schönheit wie eine Flamme, lebendig und hell. Immer wieder zog sie meinen Blick auf sich. Sein Mund war wie ein kleiner geschwungener Bogen geformt, die Nase wie ein aristokratischer Pfeil. Wenn er sich setzte, verrenkte er nicht die Glieder, wie ich es tat, sondern ordnete sie anmutig, als säße er Modell für einen Bildhauer. Am bemerkenswertesten war vielleicht seine völlige Unbefangenheit. Im Unterschied zu anderen hübschen Kindern machte er keinerlei Aufhebens um sich. Im Gegenteil, er schien sich seiner Wirkung auf die anderen Jungen überhaupt nicht bewusst zu sein, obwohl er doch hätte bemerken müssen, dass sie sich wie eine Hundemeute um ihn drängten, begierig darauf, von ihm wahrgenommen zu werden.
    Ich beobachtete solche Szenen von meinem Tisch in der Ecke, und das Brot zerkrümelte in meiner Faust. Mein Neid war scharf wie ein Feuerstein, nur einen Funken entfernt vom Feuer.
    Eines Tages saß er am Nebentisch. Seine staubigen Füße scharrten auf den Steinfliesen, während er aß. Sie waren nicht so schwielig wie meine, sondern rosig an den Sohlen und mit gebräuntem Rist. Prinz, höhnte ich im Stillen.
    Er drehte sich um, als hätte er mich gehört. Wir schauten einander an, Panik durchströmte meinen Körper. Ich riss mich von seinem Blick los und zupfte an meinem Brot. Meine Wangen waren heiß, und die Haut prickelte wie vor einem Unwetter. Als ich schließlich wieder hinsah, hatte er sich abgewendet und sprach mit den Jungen am Tisch.
    Danach war ich vorsichtiger mit meinen Beobachtungen. Ich hielt den Kopf gesenkt und bewegte nur die Augen, immer auf der Hut, meinen Blick ganz schnell woandershin zu lenken. Aber er war noch gewiefter. Er schaffte es während einer Mahlzeit mindestens einmal, mich in meiner Neugier zu ertappen, ehe ich seinen Blicken ausweichen konnte. In solchen kurzen Momenten empfand ich mehr als im Laufe eines ganzen Tages. Mein Magen verkrampfte sich, und heiße Wut stieg in mir auf. Ich kam mir vor wie ein Fisch am Haken.
    In der vierten Woche meiner Verbannung fand ich ihn im Speisesaal an meinem Tisch vor. Ich bezeichnete ihn als meinen Tisch, weil ihn sonst kaum jemand mit mir teilte. Doch jetzt, da er dort saß, drängten sich die Jungen auf den Bänken. Ich erstarrte, hin- und hergerissen von meiner Wut und dem Impuls, Reißaus zu nehmen. Doch die Wut gewann die Oberhand. Es war mein Tisch, und ich würde mich von ihnen nicht verdrängen lassen, egal, wie viele Jungen er auf seiner Seite hatte.
    Ich setzte mich auf den letzten leeren Platz und straffte kampfbereit die Schultern. Die Jungen gaben mächtig an und plapperten durcheinander. Sie redeten über einen Speer, einen toten Vogel am Strand und über die Wettkämpfe im Frühling. Ich hörte nicht hin. Seine Gegenwart störte mich wie ein Stein im Schuh, der sich einfach nicht ignorieren ließ. Seine Haut hatte die Farbe frisch gepressten Olivenöls und war so glatt wie poliertes Holz, ohne Schrammen und Blessuren wie bei all den anderen.
    Nach dem Essen wurde das Geschirr weggeräumt. Hinter den Fenstern zeigte sich der Erntemond, voll und rötlich gelb am Abendhimmel. Achill blieb länger als sonst. Gedankenversunken strich er
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