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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill
Autoren: Madeline Miller
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gefunden hätte. Peleus war bekannt dafür, dass er gern große Feste gab. Wir saßen auf Bänken aus Eichenholz, an Tischen, die offenbar uralt und entsprechend abgenutzt und zerkratzt waren. Das Essen war einfach, aber reichlich – gepökelter Fisch und dicke Scheiben Brot mit Kräuterkäse. Ziegen- oder Rindfleisch gab es nicht. Das war der Königsfamilie vorbehalten oder wurde nur an Festtagen gereicht. Am anderen Ende des Raumes sah ich im Schein der Lampe einen hellen Haarschopf leuchten. Achill . Die Jungen, die neben ihm saßen, amüsierten sich köstlich und lachten, offenbar über etwas, was er gesagt oder getan hatte. So sollte ein Prinz sein . Ich starrte auf mein Brot aus grobem Weizenschrot und strich mit den Fingern über die raue Rinde.
    Nach dem Essen durften wir machen, was uns gefiel. Manche Jungen zogen sich in eine Ecke zurück, um zu spielen. »Willst du mitspielen?«, fragte einer. Er hatte noch kindliche Locken und war jünger als ich.
    »Spielen?«
    »Würfeln.« Er öffnete langsam die Hand und zeigte mir zwei Würfel aus geschnitzten Knochen, betupft mit schwarzer Farbe.
    Unwillkürlich wich ich zurück. »Nein«, rief ich aus.
    Er zwinkerte überrascht mit den Augen. »Dann eben nicht«, sagte er achselzuckend und ging fort.
    In dieser Nacht träumte ich von dem toten Jungen, der mit zerbrochenem Schädel, aufgeschlagen wie ein Ei, am Boden liegt. Er hat mir nachgestellt . Blut strömt, dunkel wie Wein. Er öffnet die Augen, bewegt seine Lippen. Ich halte mir die Ohren zu. Die Stimmen der Toten, so heißt es, können Lebende in den Irrsinn treiben. Ich will kein Wort von ihm hören .
    Ich schreckte auf und hoffte, nicht geschrien zu haben. Es war dunkel, vor dem Fenster leuchteten nur die Sterne am mondlosen Himmel. Mein flacher, hastiger Atem durchschnitt die Stille. Unter mir knisterte die Matratze, deren Füllung aus Stroh im Rücken piekste. Die Gegenwart der anderen Jungen tröstete mich nicht. Unsere Toten übten Rache, auch ungeachtet der Zeugen.
    Die Gestirne kreisten, der Mond ging auf und zog über den Himmel. Als meine Augen schließlich wieder zufielen, lauerte der Junge noch, blutbesudelt und mit knochenbleichem Gesicht. Natürlich wartete er auf mich. Keine Seele wollte so früh in die endlosen Schatten unserer Unterwelt eingehen müssen. Die Verbannung mochte vielleicht die Lebenden besänftigen, doch die Toten waren damit nicht zufrieden gestellt.
    Als ich aufwachte, waren meine Lider verklebt, die Glieder schwer und gefühllos. Die anderen Jungen liefen bereits umher und zogen sich an, um pünktlich zum Frühstück zu erscheinen. Dass ich womöglich ein wenig merkwürdig sei, hatte sich schnell herumgesprochen, und der Junge mit den Locken trat nicht mehr auf mich zu, weder mit Würfeln noch irgendetwas anderem. Am Frühstückstisch stopfte ich mir Brotkrumen in den Mund und schluckte. Man schenkte mir Milch ein und ich trank.
    Anschließend wurden wir nach draußen in einen staubigen Hof in die pralle Sonne geführt, um im Umgang mit Speer und Schwert unterrichtet zu werden. Hier sollte ich erfahren, was es mit der Freundlichkeit des Peleus in Wahrheit auf sich hatte. Gut ausgebildet und zu Dank verpflichtet, würden wir ihm eines Tages als tüchtige Kämpfer dienen.
    Man gab mir einen Speer. Eine schwielige Hand korrigierte meinen Griff und korrigierte ihn abermals. Ich warf und verfehlte das Ziel, den Stamm einer Eiche, nur knapp. Der Lehrer ließ schnaubend Luft ab und reichte mir einen zweiten Speer. Ich schaute mich im Kreis der anderen Jungen um, auf der Suche nach Peleus’ Sohn. Er war nicht da. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Eiche, deren Borke zerfetzt und aufgebrochen war. Aus den Einschlaglöchern troff Harz. Ich warf.
    Die Sonne stieg höher und höher. Meine Kehle war heiß und trocken, Staub brannte darin. Als der Unterricht vorbei war, rannten die meisten Jungen zum Strand, wo immer noch ein leichter Wind wehte. Dort würfelten sie oder jagten einander und rissen Witze in den scharfen Dialekten des Nordens.
    Meine Augen waren schwer, und meine Arme schmerzten von den Übungen am Vormittag. Ich setzte mich in den Schatten eines struppigen Olivenbaums und schaute hinaus aufs bewegte Meer. Niemand wechselte ein Wort mit mir. Mich nicht zur Kenntnis zu nehmen war leicht. Es war nicht viel anders als zu Hause.
    Der nächste Tag verlief ähnlich, mit ermüdenden Übungen am Vormittag und langen Nachmittagsstunden, die ich allein verbrachte. In der
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