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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill
Autoren: Madeline Miller
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sollen. Doch es war so wunderschön, dass niemand Einwand erheben konnte. Die Leier stammte aus der Mitgift meiner Mutter. Während der Reise hatte ich immer wieder in die Satteltasche gegriffen, um mit der Hand über das polierte Holz zu streichen.
    Ich nahm an, dass man mich in den Thronsaal führte, damit ich dort auf die Knie fallen und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen könnte. Doch plötzlich hielt der Sklave vor einer Seitentür an. König Peleus sei abwesend, erklärte er mir und sagte, dass er mich stattdessen dem Königssohn vorstellen werde. Ich war verärgert, weil ich die artigen Worte, die ich mir unterwegs auf dem Eselsrücken zurechtgelegt hatte, nun nicht vorbringen konnte. Peleus’ Sohn. Ich erinnerte mich noch an den Kranz auf seinen hellen Haaren und an seine rosigen Fußsohlen, auf denen er so flink über die Laufstrecke gerannt war. So sollte ein Sohn sein .
    Er lag auf einer breiten, mit Kissen gepolsterten Bank, balancierte eine Leier auf dem Bauch und zupfte gelangweilt an den Saiten. Er hatte mich nicht kommen hören, oder er wollte mich nicht zur Kenntnis nehmen. Jedenfalls wurde mir in dem Moment klar, welchen Platz ich an diesem Ort einnehmen sollte. Bis zu diesem Tag war ich ein Prinz gewesen, dessen Erscheinen angekündigt wurde. Jetzt war ich jemand, den man getrost übersehen konnte.
    Ich trat einen Schritt vor und scharrte mit den Füßen, worauf er den Kopf zur Seite drehte und mich beäugte. Vor fünf Jahren hatte ich ihn das erste Mal gesehen und stellte nun fest, dass er aus seiner kindlichen Molligkeit herausgewachsen war. Ich starrte ihn an, tief beeindruckt von seiner Schönheit, den dunkelgrünen Augen und den zarten, fast märchenhaften Gesichtszügen. Ich hingegen hatte mich nicht so sehr verändert, geschweige denn zu meinem Vorteil, weshalb ich bei seinem Anblick neidisch wurde und mit Abneigung reagierte.
    Er gähnte und hob die schweren Lider. »Wie heißt du?«
    Das Königreich meines Vaters war vielleicht achtmal so groß wie das seines Vaters, ich hatte immerhin einen Jungen getötet, war in die Verbannung geschickt worden, und dennoch kannte er mich nicht. Ich presste die Lippen aufeinander und schwieg.
    Wieder fragte er, lauter diesmal: »Wie heißt du?«
    Dass ich ihm nicht gleich geantwortet hatte, war noch entschuldbar gewesen, es mochte ja sein, dass ich ihn nicht gehört hatte. Nun aber gab es keine Ausrede mehr.
    »Patroklos.« Es war der Name, den mir mein Vater nach meiner Geburt hoffnungsvoll, aber unüberlegt gegeben hatte, und er lag mir bitter auf der Zunge. Er bedeutete »zur Ehre des Vaters«. Ich war gefasst darauf, dass der Junge auf der Bank einen Scherz machte und auf meine Schande anspielte. Aber das tat er nicht. Vielleicht, dachte ich, war er ein bisschen zu dumm dazu.
    Er drehte sich zur Seite und schaute mich an. Eine Locke seiner goldenen Haare fiel ihm über die Augen. Er blies sie weg. »Mein Name ist Achill.«
    Ich hob mein Kinn, und wir betrachteten einander. Dann blinzelte er mit den Augen, gähnte wieder und riss dabei den Mund auf wie eine Katze. »Willkommen in Phthia.«
    Ich war an einem Königshof aufgewachsen und wusste, wann man mir zu verstehen gab, dass ich entlassen war.
    Noch am selben Nachmittag erfuhr ich, dass ich nicht das einzige Pflegekind von Peleus war. Der bescheidene König erwies sich als durchaus reich an verstoßenen Söhnen. Es hieß, dass er als junger Bursche von zu Hause ausgerissen sei und ein Herz für Verbannte habe. Mein Bett bestand aus einem Strohlager in einem langen kahlen Raum, den ich mir mit anderen Jungen teilte, die sich rauften oder in den Tag hineinträumten. Ein Sklave zeigte mir, wohin man meine Sachen gebracht hatte. Ein paar Jungen hoben die Köpfe und starrten mich an. Einer fragte nach meinem Namen und ich antwortete. Doch sie verloren schnell wieder das Interesse. Niemand Wichtiges . Zaghaft ging ich zu meinem Strohlager und wartete auf das Abendessen.
    In der Abenddämmerung rief uns das Geläut einer Bronzeglocke, das aus dem Inneren des Palasts tönte. Die anderen Jungen sprangen auf und eilten hinaus. Ich wähnte mich wie in einem Kaninchenbau, so verschlungen waren die engen, dunklen Korridore. Aus Angst, den Anschluss zu verlieren, trat ich dem Jungen, der vor mir lief, fast in die Hacken.
    Die Halle, in der gegessen wurde, befand sich im vorderen Teil des Palasts mit Blick auf die Ausläufer des Othrys-Gebirges und war so groß, dass eine Vielzahl von Gästen darin Platz
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