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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen
Autoren: Val McDermid
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blauen Augen, die noch verschlafen dreinblickten. Wer auch immer gesagt hat, die Augen seien der Spiegel der Seele, er hat echten Scheiß geredet, dachte er zynisch. Nun ja, vielleicht stimmte es doch, und er hatte nur keinen intakten Spiegel im Haus. Er machte den obersten Knopf seiner Schlafanzugjacke auf, öffnete die Tür des Spiegelschranks und wollte den Rasierschaum herausnehmen. Das Zittern seiner Hände ließ ihn abrupt innehalten. Wütend schlug er die Tür wieder zu, die mit einem lauten Knall ins Schloß fiel, und griff nach seinem elektrischen Rasierapparat. Er haßte diese Trockenrasur, die ihm nie das frische, saubere Gefühl der Naßrasur vermittelte. Doch es war immer noch besser, sich ein wenig schmuddlig zu fühlen, als zur Illustration für einen mißlungenen Selbstmordversuch durch tausend Schnitte zu dienen.
    Ein weiterer Nachteil der elektrischen Rasur war die Tatsache, daß er sich nicht auf die Tätigkeit zu konzentrieren brauchte, und das gab seinem Geist die Möglichkeit, über den bevorstehenden Tag nachzudenken. Manchmal war es verführerisch, sich vorzustellen, alle anderen Menschen seien wie er selbst, würden morgens aufstehen und sich eine bestimmte Rolle für den Tag aussuchen. Aber er hatte im Lauf der jahrelangen Erforschung des Geistes anderer Menschen erkannt, daß das nicht so war. Für die meisten Leute war das, was sie wählen konnten, eng begrenzt. Einige von ihnen wären zweifellos dankbar für die Möglichkeiten, die das Wissen, das fachliche Können und die ihm auferlegten Zwänge Tony verschafft hatten. Er war keiner von ihnen.
    Als er den Rasierapparat ausschaltete, erklangen im Radio die hektischen Musikfetzen, die jeder Nachrichtensendung bei Bradfield Sound vorausgingen. Mit dem Gefühl einer bösen Vorahnung wandte er das Gesicht dem Radio zu, wachsam und angespannt wie ein Mittelstreckenläufer in Erwartung des Startschusses. Am Ende der fünfminütigen Sendung seufzte er erleichtert auf und zog den Duschvorhang zur Seite. Er hatte eine Nachricht erwartet, die er auf keinen Fall hätte ignorieren können. Aber es war bei den drei Leichen geblieben.
     
    Am anderen Ende der Stadt beugte sich John Brandon, Assistant Chief Constable (Kriminalabteilung) der Stadtpolizei von Bradfield über das Waschbecken in seinem Badezimmer und starrte griesgrämig in den Spiegel. Nicht einmal der Rasierschaum, der sein Gesicht wie der Bart eines Weihnachtsmanns umrahmte, konnte ihm ein gütig-wohlwollendes Aussehen verleihen. Wenn er sich nicht für den Polizeidienst entschlossen hätte, wäre er ein idealer Kandidat für den Beruf des Bestattungsunternehmers gewesen. Er war einsachtundachtzig groß, schlank an der Grenze zur Magerkeit, hatte tiefliegende dunkle Augen und – vorzeitig – stahlgraues Haar. Selbst wenn er lächelte, wich ein Ausdruck der Melancholie nicht von seinem langen Gesicht. Heute sehe ich aus wie ein Bluthund mit einer Kopfgrippe, dachte er. Es gab allerdings gute Gründe für sein Elend. Er war im Begriff, eine Vorgehensweise einzuschlagen, die bei seinem Chief Constable so populär sein würde wie ein christlicher Priester in einer Satanskult-Loge.
    Brandon seufzte tief und bespritzte dabei den Spiegel mit Schaumflocken. Derek Armthwaite, sein Chief, hatte die brennenden blauen Augen eines Visionärs, aber was sie vor sich sahen, hatte nichts mit revolutionären Entwicklungen zu tun. Er war ein Mann, der das Alte Testament als angemesseneres Handbuch für Polizeibeamte betrachtete als das Polizeigesetz samt der Ermittlungsverordnung. Er hielt die meisten modernen Polizeimethoden nicht nur für untauglich, sondern sogar für ketzerisch. Nach Derek Armthwaites oft geäußerter Ansicht würde die Rückkehr zur Rute und zur neunschwänzigen Katze weitaus eher dazu beitragen können, die Kriminalitätsrate zu senken, als jede noch so große Zahl von Sozialarbeitern, Soziologen und Psychologen. Wenn er wüßte, was Brandon für diesen Morgen geplant hatte, würde er ihn umgehend zur Verkehrspolizei versetzen, was als modernes Äquivalent zum alttestamentarischen Verschlingen Jonas’ durch den Wal zu betrachten war.
    Ehe es jedoch dazu kommen konnte, daß Brandons Depression seinen Vorsatz überlagerte, wurde er durch ein Klopfen an der Badezimmertür aus seinen Gedanken gerissen. »Dad?« rief seine ältere Tochter. »Brauchst du noch lange?«
    Brandon schnappte sich hastig sein Rasiermesser, tunkte es ins Waschbecken und zog es über eine seiner Wangen, ehe
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