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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen
Autoren: Val McDermid
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Dornen, die ihnen das Fleisch von den Knochen rissen und für die geifernde Menge ihre inneren Organe und Eingeweide bloßlegten. Dann wurden ihnen auf dem Rad mit Eisenstangen die Knochen gebrochen. Ich dachte unwillkürlich an die Tarot-Karte Das Schicksalsrad.
    Als mir später klar wurde, daß ich zum Morden gezwungen sein würde, stieg die Erinnerung an das Foltermuseum wie eine Muse vor meinem geistigen Auge auf. Ich bin immer geschickt mit meinen Händen gewesen.
    Nach dem ersten Mal hoffte ein Teil meines Bewußtseins, daß ich nicht gezwungen würde, es noch einmal zu tun. Aber ich wußte auch, wenn es wieder sein mußte, dann würde ich es besser machen. Wir lernen ja aus unseren Fehlern, aus den Unzulänglichkeiten unserer Handlungen. Und gottlob führt zunehmende Praxis letztendlich zur Perfektion.

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1
    Gentlemen, mir ist die Ehre zuteil worden, von unserem Komitee mit der anspruchsvollen Aufgabe betraut worden zu sein, den Williams-Vortrag über das Thema »Der Mord als eine der schönen Künste« zu halten – eine Aufgabe, die abzuhandeln vor drei oder vier Jahrhunderten ein leichtes gewesen wäre, als diese Kunst noch wenig verstanden zu werden pflegte und nur vereinzelte vorbildhafte Fälle zutage getreten waren. Aber in unserer Zeit, in der von genialen Könnern exzellente Meisterwerke ausgeführt sind, muß es für alle Welt augenscheinlich sein, daß, entsprechend der Kritik, mit der sie vom Volke belegt worden werden, die Polizei danach zu trachten gezwungen ist, ihre Methoden dieser Meisterschaft anzupassen.
    T ony Hill legte die Hände hinter den Kopf und starrte an die Decke. Ein feines Netz von Rissen zog sich durch die kunstvolle Gipsrose, die sich um die Lampenbuchse rankte, aber er hatte keinen Blick dafür. Das dünne Licht der Morgendämmerung, vermischt mit dem Orange der Straßenlampen, drang durch einen dreieckigen Spalt am oberen Rand der Vorhänge, aber auch das interessierte ihn nicht. Unterbewußt registrierte er das Anspringen der Zentralheizung, die sich daranmachte, der feuchten Winterkälte die Schärfe zu nehmen, welche durch die Ritzen in der Tür und den Fensterrahmen hereinsickerte. Seine Nase war kalt, die Augen verklebt. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letztenmal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Seine Sorgen über das, was am heutigen Tag auf ihn zukam, waren zum Teil schuld daran, daß seine Träume immer wieder unterbrochen worden waren, aber da war mehr als das. Viel mehr.
    Als ob es heute nicht schon genug gäbe, über das er sich Sorgen machen müßte. Er wußte, was man von ihm erwartete, aber es auch fertigzubringen, das war eine ganze andere Sache. Es gab Menschen, die standen diese Dinge mit nicht mehr als einem leichten Flattern im Magen durch, doch nicht so Tony. Er würde alle seine Kräfte mobilisieren müssen, um die Fassade aufrechterhalten zu können, die erforderlich war, den Tag zu überstehen. Unter dem Eindruck der Umstände, die ihn derzeit in ihrem Bann hielten, hatte er ein ganz neues Verständnis dafür, wie viel für Schauspieler, die immer wieder im selben Stück auftreten, dazu gehört, das Publikum durch konzentriertes, schwungvolles Spiel zu fesseln. Heute abend würde er zu nichts mehr zu gebrauchen sein als zu einem weiteren vergeblichen Versuch, einmal acht Stunden durchzuschlafen.
    Er veränderte seine Lage im Bett, zog eine Hand unter dem Kopf hervor und fuhr durch sein kurzes dunkles Haar. Dann strich er sich über die Bartstoppeln auf seinem Kinn und seufzte. Er wußte, was er heute am liebsten tun würde, war sich aber darüber im klaren, daß es beruflicher Selbstmord war, wenn er es tatsächlich machte. Sein Wissen, daß in Bradfield ein Serienmörder sein Unwesen trieb, war nicht von Bedeutung. Er konnte es sich nicht leisten, der erste zu sein, der das aussprach. Sein leerer Magen rebellierte, und er zuckte zusammen. Mit einem Seufzer schob er die Steppdecke zurück und stieg aus dem Bett.
    Tony schleppte sich zum Bad und machte das Licht an. Während er pinkelte, schaltete er mit der freien Hand das Radio auf der Ablage ein. Der Ansager des Straßenverkehrsberichts der Station Bradfield Sound verkündete die üblichen Staus mit einer Fröhlichkeit, die keinem Autofahrer ohne eine gehörige Dosis Aufputschmittel zu entlocken gewesen wäre. Tony war froh, daß er sich heute morgen nicht in den Verkehr stürzen mußte, und wandte sich dem Waschbecken zu.
    Er starrte im Spiegel in seine tiefliegenden
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