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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen
Autoren: Val McDermid
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Käsesandwich aus der Kantine nicht gegessen. Es wurde irgendwie akzeptiert, daß junge männliche Polizisten sich übergaben, wenn sie mit Opfern von Gewaltverbrechen konfrontiert wurden. Man brachte ihnen sogar Mitgefühl entgegen. Aber trotz der Tatsache, daß man bei Frauen im allgemeinen von sensiblen Magenreaktionen ausging, verlor eine Polizeibeamtin, wenn sie sich am Tatort eines Verbrechens übergeben mußte, jeglichen Respekt, den sie sich je erworben hatte, und wurde zu einem Objekt der Verachtung, zur Zielscheibe von derben Witzen. Wo bleibt da die Logik, dachte Carol bitter und biß die Zähne zusammen. Sie steckte die Hände tief in die Taschen ihres Trenchcoats und ballte die Fäuste.
    Carol spürte eine Hand auf ihrem Arm, gleich oberhalb des Ellbogens. Dankbar für die Möglichkeit, ihren Blick abwenden zu können, schaute sie ihren Sergeant an, der hoch neben ihr aufragte. Don Merrick war gut zwanzig Zentimeter größer als seine Chefin, und er hatte sich eine seltsam gebeugte Haltung angewöhnt, wenn er mit ihr sprach. Anfangs hatte sie das amüsant genug gefunden, um damit unter Freunden bei gemeinsamen Drinks oder den Abendessen, zu denen sie kaum einmal die Zeit fand, Witze zu machen. Jetzt nahm sie es gar nicht mehr wahr. »Absperrung um den Tatort steht, Ma’am«, sagte er in seinem weichen Geordie-Akzent. »Der Pathologe ist auf dem Weg hierher. Was halten Sie von der Sache? Haben wir es mit Nummer vier zu tun?«
    »Lassen Sie das ja nicht den Super hören, Don«, erwiderte sie, und sie meinte es nur halb im Scherz. »Ich würde Ihre Frage jedoch bejahen.« Carol schaute sich um. Sie waren im Stadtteil Temple Fields, im Hinterhof eines Pubs, der seine Kundschaft vornehmlich in der Homosexuellenszene hatte und im Obergeschoß dreimal in der Woche eine Bar für Lesbierinnen betrieb. Im Gegensatz zu den Machos unter den Kollegen, die sie bei den Beförderungen überholt hatte, hatte Carol nie einen Grund gehabt, dieses Lokal zu betreten. »Was ist mit dem Tor zum Hinterhof?«
    »Stemmeisen«, antwortete Merrick lakonisch. »Das Tor ist nicht an das Alarmsystem angeschlossen.«
    Carol schaute sich die großen Müllcontainer und die aufgestapelten Lattenkisten mit Abfall an. »Offensichtlich kein Grund, das zu tun«, meinte sie. »Was hat der Besitzer zu sagen?«
    »Whalley redet gerade mit ihm, Ma’am. Der Mann hat gestern abend um halb zwölf das Lokal geschlossen. Sie haben hinter den Tresen Tonnen auf Rädern für den anfallenden Müll, und wenn sie dichtgemacht haben, rollen sie diese Tonnen da drüben hin.«
    Merrick zeigte auf die Hintertür des Pubs, wo drei blaue Plastiktonnen standen, alle etwa in der Größe von Supermarkt-Einkaufswagen. »Sie sortieren den Müll dann erst am nächsten Nachmittag aus und werfen ihn in die Container.«
    »Und bei dieser Arbeit haben sie das da gefunden?« fragte Carol und zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter.
    »Ja, lag einfach da. Den Elementen ausgesetzt, könnte man sagen.«
    Carol nickte. Ein Schauder befiel sie, und er war nicht auf den scharfen Nordostwind zurückzuführen. Sie ging auf die Hintertür des Pubs zu. »Okay. Überlassen wir das erst mal der Spurensicherung. Wir sind hier nur im Weg.« Merrick folgte ihr in die schmale Gasse hinter dem Pub. Sie war gerade breit genug, daß sich ein kleiner Personenwagen hindurchquetschen konnte. Carol schaute erst in die eine, dann in die andere Richtung; sie war an beiden Enden mit Trassierband abgesperrt und zusätzlich von je zwei uniformierten Constables bewacht. »Er kennt sein Revier«, murmelte sie. Sie bewegte sich rückwärts durch die Gasse, dabei die Tür des Pubs ständig im Auge behaltend. Merrick folge ihr und wartete auf weitere Anweisungen.
    Am Ende der Gasse blieb Carol stehen, drehte sich um und sah sich die Straße an, in die die Gasse mündete. Gegenüber lag ein hohes Gebäude, ein ehemaliges Lagerhaus, das man in Werkstätten für Kunsthandwerker umgebaut hatte. Bei Nacht lag es verlassen da, aber jetzt, mitten am Nachmittag, hingen fast in jedem Fenster Leute, die neugierig aus der Wärme ihrer Räume auf das Drama da unten starrten. »Zum entscheidenden Zeitpunkt hat wohl keiner aus dem Fenster geschaut«, stellte sie fest.
    »Und selbst wenn jemand es getan hätte, er hätte das Geschehen kaum beachtet«, sagte Merrick zynisch. »Wenn die Lokale abends schließen, ist in dieser Gegend hier schwer was los. Unter jedem Torbogen, in jeder Gasse, in der Hälfte aller
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