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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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Abraham! Ein Protestant würde unseren Herrn wohl kaum ›der Erhabene‹ nennen. Er würde einfach sagen: ›Gott möge uns beschützen.‹«
    Abraham nickte und schaute für einen Moment grimmig drein. Nicht so sehr wegen der Anrede, die er wählen musste, wenn er seinen neuen, alten Gott anrief, sondern weil es ihn volle drei Wochen Wartezeit gekostet hatte, Protestant zu werden. So lange nämlich hatte Listig sich mit den versprochenen Papieren Zeit gelassen. Man schrieb bereits den vierundzwanzigsten März, und Abraham hatte Sorge, sich nicht mehr rechtzeitig für das Sommersemester einschreiben zu können.
    »Tausendsackerment!«, hatte Listig gerufen und mit den Pässen gewedelt, als er gestern endlich auf Pausbacks Schultern zum Turm zurückkehrte. »Es hat ein bisschen länger gedauert, ihr zwei! Aber dafür sind es die echtesten Papiere, die jemals gefälscht wurden.«
    Abraham und Alena hatten zugeben müssen, dass ihre neuen Identitäten wirklich perfekt waren. Kein noch so pingeliger Beamter und kein noch so aufmerksamer Posten, so hatte Listig wortreich versichert, würde einen Unterschied zwischen den neuen und echten Papieren entdecken können. Ein beruhigender Gedanke. Und ein besänftigender dazu. Deshalb hatte Abraham, der in den vergangenen Tagen immer rastloser geworden war und immer häufiger die Umgebung von Eddigehausen abgesucht hatte, um die Vermissten aufzuspüren, auch auf jeden Vorwurf verzichtet. Listig war nun einmal unberechenbar, damit musste man sich abfinden.
    Stattdessen hatten er und Alena sich herzlich bedankt und ein schmackhaftes Abschiedsessen zubereitet. Allen hatte es vorzüglich gemundet, zumal Listig und Pausback neben den gefälschten Papieren auch wahre Gaumenfreuden mitgebracht hatten: einen halben gekochten Schinken, dazu duftendes Mittelbrot, ein paar Unzen Butter, einen würzigen Käse und mehrere
Bouteillen
eines Rotspons, der die letzten Jahre im Fass verbracht hatte. Wo sie die Köstlichkeiten aufgetrieben hatten, verrieten sie nicht, und es fragte auch niemand danach. Trotzdem hatte Abraham gezögert, sich dem Schmaus hinzugeben, denn die
Kaschrut
verwehrte ihm, Schweinernes zu essen, ebenso wie sie ihm verbot, Fleisch und Milchprodukte gleichzeitig zu sich zu nehmen.
    Listig hatte gelacht und gesagt: »Da siehst du mal, welche Vorteile es hat, Protestant zu sein, lieber Freund! Vergiss die jüdischen Speisegesetze, und halte es mit Doktor Luther, der die Gebote für die Freuden der Tafel viel großzügiger auslegte!«
    Es war ein langer Abend geworden, der das Aufstehen am heutigen Morgen nicht leicht gemacht hatte, dennoch hatte Abraham auf einen frühen Aufbruch gedrängt und Pausback und Listig, die noch schliefen, einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er sich noch einmal für ihre Dienste bedankte und ihnen alles Gute für ihren weiteren Strich wünschte.
    Und nun waren er und Alena nur noch wenige hundert Schritt von ihrem Ziel entfernt. Hier und da tauchten schon ein Haus oder ein Gebäude auf, die Felder wurden kleiner, die Luft roch nach Frühling und Geschäftigkeit. Unternehmungslustig klopfte Abraham sich den Staub von seinem schwarzen Gehrock und tat das Gleiche bei Alena, die ebenfalls ganz in Schwarz gewandet war – eine Angewohnheit, die noch aus ihren Tagen als Karmelitin stammte.
    »Auf, auf, Frau Abraham!«, rief er und zog den Karren wieder an. »Gleich sind wir da.«
    Doch es sollte noch einige Zeit vergehen, bis sie das Wehnder Tor erreicht hatten, und als sie hindurch waren und die gleichnamige Straße unter ihre Füße nahmen, belebte es sich zusehends. Immer mehr Passanten und Kutschen begegneten ihnen und zwangen sie, langsamer zu werden und mitunter sogar anzuhalten. Würdige Herren stolzierten vorbei, die, ihrem Stand entsprechend, Rock und Kniehose trugen und unter dem Dreispitz die gepuderte Allongeperücke. Marktfrauen in einfachen Kittelkleidern, beladen mit Körben oder Käfigen, strebten hierhin und dorthin, Mägde mit gestärkten bunten Hauben und zierlichen Wämsern standen zu zweit oder zu dritt an den Ecken und schwatzten, spielende Kinder rannten hin und her, niemanden beachtend und alle behindernd, und zwischen all dem Treiben und all dem Trubel tauchte immer wieder einer der vielen Studenten auf, von denen die halbe Stadt lebte – manche schon im sommerlichen Kamelott, der beliebten Jacke aus Angora oder anderer Wolle, manche stattlich in Uniform mit dem Hieber an der Seite, manche auch hoch zu Ross.
    Abraham und
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