Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
habe ich dir dieselbe Antwort gegeben: Es wird sich finden.« Er küsste sie sanft auf die Nase. »Es muss sich finden. Denn nur als Ehepaar können wir während meines Studiums in Göttingen zusammenbleiben.«
    »Du und dein Studium.« Alena drehte den Kopf zur Seite. »Ich habe ja nichts dagegen, dass du es noch einmal versuchen willst, ein Doktor der Medizin zu werden, aber sind das nicht Luftschlösser, die du da baust?«
    Klingenthal schüttelte ernst den Kopf. »Wir waren uns einig, dass wir heiraten wollen und ich danach studiere. Dafür habe ich in den letzten Monaten jeden Pfennig und jeden Guten Groschen beiseitegelegt. Du weißt, wie wichtig mir das Studium ist. Ich werde nicht jünger.«
    »Du wirst der älteste Student sein, der jemals in Göttingen Vorlesungen hörte.«
    »Nirgendwo steht geschrieben, dass man mit Ende vierzig nicht studieren darf.«
    »Und ebenso steht nirgendwo geschrieben, dass man mit Ende vierzig noch studieren muss.«
    »Doch, ich muss es. Du weißt, warum.«
    Alena seufzte. Natürlich wusste sie es. Klingenthal hatte es ihr oft genug gesagt. Er stammte aus ehrbarer Familie, sein Vater, Abraham Klingenthal, war Pfandleiher in der Elbestadt Tangermünde gewesen und hatte mit Judith, seiner Frau, eine überaus harmonische Ehe geführt. Aus der Verbindung waren sieben Kinder hervorgegangen, von denen alle eine große Liebe zur Musik entwickelten. Einzig Klingenthal war aus der Art geschlagen. Er hatte sich von Kindesbeinen an der Medizin verschrieben. So war es nur folgerichtig gewesen, dass er als junger Mann an die Universität Göttingen ging, um eine Ausbildung als Arzt zu beginnen. Das Unglück wollte es, dass er dem Professor Hermannus Tatzel bei einer Tumor-Operation assistierte, die tödlich ausging. Dem berühmten Lehrer war das Skalpell ausgerutscht, der Patient verblutete, und Klingenthal wurde dafür verantwortlich gemacht. Es hatte ihm nichts genützt, dass er wieder und wieder seine Unschuld beteuerte, denn das Wort des Professors stand gegen das seine – das Wort eines hochgeachteten Ordinarius gegen das eines kleinen
Branders,
wie man die Studenten im zweiten Semester nannte. Klingenthal hatte die Universität verlassen müssen, verbittert bis ins Herz, und sich daraufhin in vielen Berufen versucht. Schließlich hatte er die Kunst des Bauchredens für sich entdeckt. Seitdem zog er mit seinen Puppen durch die Lande. Über ein Jahr lag es zurück, dass er Alena von seiner Absicht erzählt hatte, das Studium neu zu beginnen. Gewissermaßen aus einer späten Trotzreaktion, wie er sagte, aber auch, weil er der endlosen Tippelei auf den Chausseen überdrüssig war.
    Klingenthal strich Alena über das vom Schlaf zerzauste Haar. »Wir schaffen es schon. Irgendwie schaffen wir es schon. Wir müssen nur daran glauben.«
    »Ja, Klingenthal.« Alena klang nicht sehr überzeugt. Sie küsste ihn auf den Mund und spürte seine kratzenden Bartstoppeln. »Mir ist kalt.«
    »Ich wärme dich.« Er umfing sie noch stärker und drückte seinen Unterleib gegen ihren.
    Sie kicherte. »So stark musst du mich nun auch wieder nicht wärmen.«
    »Oh, doch. Unser altes Armeezelt hält doch kaum den Frost ab.«
    »Am besten, ich stehe jetzt auf. Das Feuer draußen hat bestimmt keine Glut mehr.«
    »Das Feuer vielleicht nicht, aber ich.«
    »Alles zu seiner Zeit, Julius Klingenthal!« Energisch löste sich Alena aus seiner Umarmung und erhob sich halb, denn das alte preußische Infanteriezelt maß kaum fünf Fuß in der Höhe. »Ich werde mich mal nach trockenem Geäst umsehen. Ob Glut oder nicht, Feuerung brauchen wir in jedem Fall.«
    Er grinste und versuchte, nach ihr zu greifen, doch Alena war schneller. Sie öffnete den Zelteingang einen Spaltbreit und stieß einen Laut des Entzückens aus. »Oh, wie wunderschön! Die ganze Umgebung ist mit Rauhreif bedeckt! Es sieht aus, als hätte der liebe Gott Zucker über die Landschaft gestreut.«
    »Scheint die Sonne?«, fragte Klingenthal, der weniger gefühlvoll veranlagt war.
    »Sie ist eben aufgegangen! Kein Wölkchen steht am Himmel, ein herrlicher Tag.«
    »Dann werden wir heute die vier oder fünf Meilen nach Göttingen leicht schaffen.« Klingenthal ließ sich zurücksinken. »Wenn du schon nach Brennholz Ausschau hältst, Liebste, dann sieh auch gleich nach meinen Puppen. Ich hoffe, sie hatten eine erholsame Nacht.«
    Alena nickte und schlüpfte mit einer anmutigen Bewegung aus dem Zelt. Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick schweifen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher