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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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sein. Sie streckte die Hand aus, damit er ihr aufhelfe, aber er machte keinerlei Anstalten dazu. Er grinste sie nur fortwährend an. Alenas Augen tadelten ihn. »Ein Kavalier scheinst du nicht gerade zu sein.«
    »Vielleicht bin ich einer, der’s gern wär, aber nicht sein kann.«
    »Du sprichst in Rätseln.« Alena stand allein auf und schickte sich an weiterzugehen.
    »Ich würd dir gern helfen, Gott ist mein Zeuge. Aber ich kann es nicht, Gott sei’s geklagt.« Jetzt grinste der Jüngling nicht mehr. Immer noch sitzend, stützte er sich mit den Armen nach hinten ab und hob langsam seine ausgestreckten Beine. Alena sah, dass er keine Füße hatte. Sie schluckte und sah noch einmal hin. Dann keimte ein Gedanke in ihr auf. »Sag mir deinen Namen.«
    »Wenn ich ihn dir nenn, wirst du nicht glauben, dass es ein Name ist.«
    »Vielleicht doch.«
    »Ich bin Listig.«
    Für eine Weile sagte Alena nichts. Sie betrachtete den spargeldünnen Jüngling und musste an die Erzählungen von Klingenthal denken, der oftmals von zwei ungewöhnlichen Freunden berichtet hatte. Der eine hieß Listig – genau so, wie der Jüngling hier vorgab zu heißen –, der andere Pausback. Beide waren ein Gespann, das sich trefflich ergänzte, denn Listig war ein heller Kopf, und Pausback war ein wenig schlicht. Er trug Listig stets auf seinen Schultern, und Listig schützte Pausback vor Betrügern, die ihn beim Verkauf seiner Balsame, Tinkturen und Pflaster übers Ohr hauen wollten. Alena beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen, und sagte: »Mag sein, dass du listig bist, aber ich glaube nicht, dass du Listig heißt.«
    »Dacht ich mir’s doch. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
    »Weil der Listig, von dem ich gehört habe, niemals allein daherkommt.«
    »Was du nicht sagst.« Der blonde Jüngling zog die Brauen hoch. »Und wer sagt dir, dass ich allein bin?«
    »Nun … bist du etwa nicht der Einzige hier?«
    Statt einer Antwort krabbelte der Blonde geräuschvoll durchs Laub und stieß an einer bestimmten Stelle den Arm bis zur Schulter hinab ins Blattwerk. »Holla, du Sohn des Enak, werde wach und richte dich auf!« Eine Weile verging, während der Jüngling mehrfach die Prozedur wiederholte. Endlich hörte man ein Brummen. Es war so tief, als käme es aus der Kehle eines Bären. Alena trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Jüngling lachte. »Keine Bange, das war nur Pausback. Er braucht morgens immer ein wenig länger, um sich der Unbill des Tages zu stellen.«
    »Pausback …«, wiederholte Alena und schüttelte halb ungläubig, halb verwundert den Kopf. Ihre Vermutung war also richtig gewesen. Das Leben hielt manchmal Zufälle bereit, die niemand glauben konnte, bis er sie mit eigenen Augen sah.
    »Ganz recht, so heißt der Mann! Erschrick nicht, wenn du ihn gleich siehst.«
    Trotz Listigs Warnung stockte Alena wenig später der Atem, denn vor ihr aus dem Laub wuchs ein Mann empor, der sich als wahrer Riese entpuppte. Niemals zuvor hatte sie einen Menschen von solcher Körperlänge gesehen. Zwar hatte Klingenthal ihr von Pausbacks ungewöhnlichen Ausmaßen erzählt, aber dass er so groß war, hatte sie nicht für möglich gehalten.
    »Darf ich vorstellen, das ist Pausback Schüppling!«, rief Listig.
    Alenas Augen lächelten. Sie sah in das gutmütige, rosigrunde Gesicht des Riesen und stellte fest, dass er seinen Namen zu Recht trug. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Pausback. Einen guten Morgen wünsch ich dir, und einen wunderschönen Tag.«
    Der Riese schnaufte, trat von einem Bein aufs andere und schaute auf seine Hände.
    »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
    Der Riese lief rot an, fast so rot wie die Weste, die zu der besonderen Tracht der Balsamträger gehörte – ebenso wie der braune Rock, die ledernen Kniebundhosen und die weißen Gamaschen über den derben Schuhen. Noch immer brachte er keinen Ton heraus. Alenas weiblicher Instinkt regte sich. Er verriet ihr, dass der Riese schüchtern war, sehr schüchtern sogar. Sie wollte ihm helfen und sagte deshalb: »Nun, Pausback, du brauchst nicht zu sprechen, wenn du nicht magst. Vielleicht bist du noch müde. Ich habe dich hoffentlich nicht gestört?«
    »Hmja. Doch, ja.«
    Endlich eine Antwort! Allerdings nicht im erhofften Sinne. Alenas Augen verdunkelten sich. »Tut mir leid, das wollte ich nicht.«
    Jetzt mischte sich Listig ein: »Hör mal, Gevatterin, du bist zu schnell fertig mit der Rede. Pausback braucht immer Zeit für eine Antwort, und wenn
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