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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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Von dem Hügel, auf dem der alte Turm stand, hatte man eine herrliche Aussicht. »Wie wunderschön!«, rief sie abermals, wobei sich weiße Atemwölkchen vor ihrem Gesicht bildeten. Dann wandte sie sich dem Karren zu, einem stabilen, zweirädrigen Wagen, auf dem neben den Puppen auch Klingenthals und ihre Habe verstaut war. Ein Pferd gab es nicht. Klingenthal legte sich grundsätzlich selbst ins Geschirr und steuerte mit festen Schritten das nächste Ziel an – mochte es auch noch so weit entfernt sein. Diese Art der Fortbewegung hatte ihn gestählt. Anders als die meisten Männer seines Alters hatte er kein Gramm Fett am Körper, er verfügte über einen breiten Brustkorb, kräftige Oberarme und muskulöse Schenkel. Sein Gesicht hatte durch die vielen Jahre auf der Straße eine gesunde, immerwährende Bräune angenommen, die ihn jünger aussehen ließ, als er war.
    Alena trat auf den Karren zu und schlug die Plane zurück. Ja, die Puppen waren vollzählig. Sie saßen da in ihrer typischen Haltung und in genau festgeschriebener Ordnung. Diese Ordnung war wichtig, wie Klingenthal wiederholt betont hatte, denn jede Puppe besaß nicht nur eine eigene Stimme, sondern auch einen eigenen Charakter, der sich nicht unbedingt mit dem der anderen vertrug.
    Auf der Rückbank in der Mitte saß Friedrich der Große, eine Figur von ganz besonderem Reiz: knorrig, knurrig, krumm. Friedrich trug einen abgewetzten, mit Niesspuren übersäten Uniformrock, auf dem der Schwarze-Adler-Orden glänzte, dazu einen Dreispitz mit weißer Generalsfeder. Seine Froschaugen über der langen Nase blickten neugierig und grimmig zugleich, während sich seine gichtigen Hände um einen dünnen Spazierstock, ein sogenanntes spanisches Röhrchen, spannten.
    Flankiert wurde der Alte Fritz, der eine scharfe Zunge führte und die Frauen verachtete, vom Schultheiß, der ein ausgleichendes Wesen besaß und zum Zeichen seiner Würde eine schwere goldene Amtskette trug, sowie von einem im Harnisch steckenden Söldner, der mit Friedrichs derber Sprache spielend mithalten konnte.
    Das Burgfräulein, eine ältliche Jungfer mit blasiertem Blick, Spitzhut und einem zerknüllten Taschentuch in der Hand, war möglichst weit entfernt von Friedrich plaziert worden, nämlich ganz vorn links, wodurch sie mehr oder weniger außer Reichweite seiner Beleidigungen war. Der Rest der Puppenschar verteilte sich auf dem Wagen. Er bestand aus dem Schiffer, der ähnlich wie der Söldner kein Kind von Traurigkeit war und die Dinge gern beim Namen nannte, dem Landmann, der eine Forke in der Faust hielt und, ganz gegen seine Profession, gerne und lange schlief, und nicht zuletzt der Magd. Sie war ein liebes, blondes Ding, das einen Kittel aus verblasstem Blautuch anhatte und eine gestärkte weiße Haube trug.
    Alena nahm die Plane vollends ab und faltete sie zusammen. Dann schreckte sie auf, denn Friedrich der Große blaffte sie von hinten an: »Hat Sie nichts Besseres zu tun?
Accellerire
Sie Ihre Arbeit, ich will Frühstück!«
    Alena schaute zum Zelt. Wie sie vermutet hatte, zeigte sich in der Öffnung der grinsende Klingenthal. Sie wollte ihm etwas Passendes antworten, doch plötzlich erwachten auch die anderen Puppen zum Leben. Sie sprachen, scherzten, fluchten jede auf ihre Art, und wie immer war Klingenthal dabei nicht die geringste Lippenbewegung anzusehen. Er hatte ihr einmal erklärt, dass ein guter Bauchredner bei der Ausübung seiner Kunst keinen Gesichtsmuskel verziehen dürfe, ein sehr guter Bauchredner es darüber hinaus verstünde, die Worte zu lenken, als kämen sie aus einem ganz bestimmten Mund, ein Meisterbauchredner aber die Worte mit individueller Stimme lenke und forme, ebenso wie er in der Lage sei, sämtliche Geräusche dieser Welt zu imitieren.
    »Jawoll, Frühstück!«, brüllte der Söldner. »Antreten zum Essenfassen! Was gibt’s denn, Kameraden?«
    Der Schiffer rief: »Qualle, Seetang, Heringsblut …« – »
Mon Dieu,
wie ordinär«, unterbrach das Burgfräulein – »… füllen Seemannsmägen gut!« Der Schiffer lachte und setzte gleich noch einen drauf: »Auf, auf, ihr müden Leiber, die Pier steht voller nackter Weiber!«
    Das Burgfräulein schnappte nach Luft.
»Impertinent, impertinent.«
    »
Silentium,
alte Dörrpflaume!«, schnauzte Friedrich.
    »Aber, aber, Majestät.« Der Schultheiß versuchte, die Wogen zu glätten. »Höflichkeit ist die Tugend der Könige, und dem wollen wir doch Genüge tun. Ich für meinen Teil hätte gegen eine
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