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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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hartnäckig! Was machen wir denn da?« Listig zog die Stirn in Falten. »Ich hab’s: Wenn der eine nicht will, was der andere will, und der andere nicht will, was der eine will, dann müssen eben beide etwas wollen, das sie nicht wollen.«
    »Was soll das denn heißen?« Klingenthal schüttelte unmutig den Kopf, und auch Alena blickte skeptisch.
    Listig strahlte. »Ihr werdet beide protestantisch!«
    »Unsinn!«, sagte Klingenthal.
    »Nein!«, sagte Alena.
    »Kann ich ’ne Kartoffel?«, fragte Pausback.
    Keiner ging auf den Riesen ein. Stattdessen sagte Listig: »Dann liebst du Alena also nicht, Julius?«
    »Natürlich liebe ich sie.«
    Listig wandte sich an Alena: »Aber du liebst Julius nicht, oder?«
    »Doch, selbstverständlich! Wie kannst du so etwas nur sagen!« Alenas Augen schossen Blitze.
    Listig griente. »Dann müsst ihr eben weiter in Sünde leben. Aber ich sage euch: Der liebe Gott ist so groß, dass ihm die unterschiedlichen Bekenntnisse schnurzegal sind. Er würd es euch nicht übelnehmen, wenn ihr den Glauben wechselt, denn wo ihr auch hinkommt, er ist schon da.«
    »Kann ich ’ne Kartoffel?«, fragte Pausback.
    Alena gab ihm eine.
    Klingenthal steckte seinen Löffel weg. Er hatte keinen Hunger mehr. Die Gedanken drehten sich in seinem Hirn wie in einem Karussell. Es dauerte eine Zeitlang, bis er sie wieder unter Kontrolle hatte. Dann räusperte er sich. »Wie ich bereits sagte, Listig: Du bist frech wie Fliegen und immer mit dem Mund vorneweg, aber in diesem Fall …«
    »Was ist in diesem Fall?«
    »Nun, in diesem Fall hast du vielleicht recht.«
    »Jetzt nimmst du Vernunft an!«
    »Eine Vernunft, die mir nichts nützt. Und Alena auch nicht, sollte sie dir ebenfalls recht geben.«
    »Wie meinst du das, mein Freund?«
    »Selbst wenn Alena und ich protestantisch werden wollten, dürfte es keinen Pfarrer auf dieser Welt geben, der uns so mir nichts, dir nichts dazu erklärt.«
    Listig griente. »Wer redet denn von einem Pfarrer? Was ihr braucht, ist ein Fleppenfackler.«
    »Was soll das denn nun wieder heißen?«
    »Ein Fleppenfackler ist ein Fälscher. Das Wort kommt von ›Flepp‹ wie Pass und ›Fackeln‹ wie Schreiben. Der Fälscher macht euch die schönsten neuen Papiere – schwuppdiwupp. Und schon seid ihr gleichen Glaubens. Und verheiratet obendrein.«
    Klingenthal holte seinen Löffel wieder hervor und aß mechanisch weiter. »An diese Möglichkeit habe ich noch nicht gedacht. Ich habe mir immer wieder den Kopf zerbrochen, ohne dass mir eine Lösung für unser Problem eingefallen wäre, und nun kommst du daher, und alles ist ganz einfach. Aber ist es das wirklich? Falsche Papiere sind ungesetzlich, und ich möchte den Bund der Ehe nicht mit einer Betrügerei beginnen.«
    »Was ist heutzutage schon gesetzlich, mein Freund.«
    »Andererseits«, überlegte Klingenthal, »hätten gefälschte Papiere einen zusätzlichen Vorteil. Sie würden mir aus einer Klemme helfen, für die ich bislang ebenfalls keine Lösung hatte. Immer wieder habe ich gegrübelt, wie ich es vermeiden könnte, mich unter meinem Namen in Göttingen zu immatrikulieren, denn der Name Klingenthal ist mit einem schweren Makel behaftet.«
    »Einem Makel?«
    Klingenthal erzählte ausführlich von dem Professor Hermannus Tatzel, dessen missglückter Operation und dem Unrecht, das ihm seinerzeit an der Georgia-Augusta-Universität widerfahren war. Listig hörte wie gebannt zu. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Nichts erinnerte in diesem Augenblick an den Luftikus, der er sonst so gern war.
    Klingenthal fuhr fort: »Mit falschen Papieren aufzutreten ist ein verlockender Gedanke. Vieles könnte dadurch einfacher werden. Aber ich will und kann nicht allein entscheiden, ob dies der richtige Weg ist. Was meinst du dazu, Liebste?«
    Alena sagte nichts. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit dem Feuer, obwohl das gar nicht nötig war, und schob Pausback ein halbes Dutzend dampfende Kartoffeln hin.
    »Liebste?«
    Alena seufzte. »Du stellst schwere Fragen, Klingenthal. Aber in diesem Fall habe ich das Gefühl, es kann kein Unrecht sein, wenn man etwas tut, das ein früher erlittenes Unrecht wiedergutmacht.«
    Listig rief: »Es wäre eine Art Notwehr, mehr nicht!«
    Klingenthals Gesichtszüge entspannten sich. »Heißt das, du …?«
    »Ja.« Alenas Augen lächelten. »Ich heirate dich und behalte meinen Gott, und du heiratest mich und behältst deinen Gott, denn beide sind identisch – egal, wie die Herren Religionsführer ihn
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