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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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abstellen?«
    »Weil es verboten ist.
Zur Bequemlichkeit der Passage darf kein Wagen vor der Tür oder auf der Straße stehen.
So heißt es wörtlich in der Verfügung von Bürgermeister und Rat.«
    »Wie viel wird denn das Logis für ein Semester kosten?«, mischte sich Alena ein.
    »Die Stubenmiete hängt ganz von der Art und der Beschaffenheit des Zimmers sowie der Möblierung ab. Es geht von acht Reichstalern aufwärts. Eine sehr gute Unterkunft kann sogar mehr als fünfzig Taler kosten.«
    Abraham dachte daran, dass alles, was er sich mühsam erspart hatte, nicht mehr als siebenundachtzig Taler und ein paar Groschen betrug. Wenig genug, wenn er damit das kommende Triennium bestreiten wollte. »Vielleicht wisst Ihr eine Adresse, an die meine Frau und ich uns wenden können?«, fragte er hoffnungsvoll.
    »Die weiß ich nicht. Jedenfalls nicht aus dem Kopf.« Ulrich ließ die Pfeife von einer Mundecke in die andere wandern, was ein schmatzendes Geräusch verursachte. Er tat ein paar Züge, bemerkte, dass sie ausgegangen war, und steckte sie in die Tasche. »Meine Amtsstube befindet sich in der Burgstraße, dort führe ich eine alphabetische Liste darüber, welcher Bursche wo wohnt. Über hundert sind bereits ausgezogen oder werden es noch tun, weil das Wintersemester zu Ende geht, neue
Burschen
werden eintreffen. Im Moment ist es ein rechtes Durcheinander. Wenn Ihr genaue Auskunft wollt, auch darüber, wie viel Euch das Leben in Göttingen kostet, dann kommt morgen früh in die Burgstraße. Aber nicht vor acht Uhr, wenn ich bitten darf. Danke für das Bier.«
    Ulrich wollte sich erheben, wurde aber wieder von Abraham zurückgehalten. »Eine Frage noch, wenn Ihr erlaubt: Da es nicht möglich scheint, heute Eure Dienste in Anspruch zu nehmen, würde ich gern die Zeit nutzen und mich immatrikulieren – schließlich ist am ersten April Semesterbeginn. Steht aus Eurer Sicht etwas dagegen?«
    Ulrich ging zum Garderobenständer und setzte seinen Dreispitz auf. Abraham dachte schon, er käme nicht zurück, aber er täuschte sich. Der Rotgesichtige drehte sich noch einmal um. »Wenn Ihr Euer Studium so hartnäckig verfolgt, wie Ihr mich mit Fragen löchert, werdet Ihr der beste Student sein, den Göttingen jemals hatte. Die Antwort ist: Ich würde es lassen. Ihr seht nun mal nicht aus wie ein Krösus, und in solchen Fällen sieht der Prorektor es lieber, wenn der Kandidat eine ordentliche Bleibe vorweisen kann. Bei Euch wird er es besonders gern sehen, weil Ihr verheiratet seid und in unserer schönen Stadt Zucht und Ordnung herrschen sollen.«
    »Der Tee und das Gesottene.« Die Schankmagd knallte das Bestellte auf den Tisch. »Noch ein Bier?«
    »Nein, äh, danke«, sagte Abraham hastig, denn Ulrich schickte sich abermals an zu gehen. »Hört, Herr Logis-
Commissionair,
heißt das, ich habe noch etwas Zeit mit der Immatrikulation?«
    Ulrich überlegte kurz. »Das habt Ihr. Heute ist Donnerstag, wenn Ihr es im Laufe der nächsten Woche erledigt, ist es noch früh genug. Karfreitag fällt in diesem Jahr auf den vierzehnten April, wenn ich mich nicht irre, und vorher sind zwei Wochen Osterferien angesetzt. Es eilt also tatsächlich nicht.«
    »Ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet.«
    »Dankt nicht mir, dankt der Stadt, die mich bezahlt.« Ulrich tippte sich an den Dreispitz und strebte dem Ausgang zu.
    Abraham schaute Ulrich nach und empfand zwiespältige Gefühle. Einerseits war er froh, dass es mit der Immatrikulation nicht so pressierte, andererseits machte er sich Sorgen wegen der Unterkunft. Alena riss ihn aus seinen Gedanken. »Guten Appetit, Julius Abraham, lass das Gesottene nicht kalt werden.«
    »Äh, guten Appetit, Liebste.«
    Beide aßen. Alena trank zwischen den Bissen ihren Tee und stellte anschließend die Frage, die Abraham schon die ganze Zeit auf der Seele brannte: »Und was machen wir jetzt?«
    »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Liebste, ich …«
    »Der Scherenschleifer ist da, schnippschnapp!« Eine schmale Gestalt stand in der Tür, schwenkte eine übergroße Holzschere in der Luft und rief lautstark einen Reim in den Raum:
    »Scheren, Messer, Klingen
    und jeglicher Bedarf,
    ihr müsst ihn mir nur bringen,
    Pilatus macht ihn scharf!«
    »Wir haben keine Scheren!«, rief der Wirt, ein schmerbäuchiger Mann mit lederner Schürze. »Kannst dich rausscheren!«
    Einige Männer im Lokal lachten. Pilatus, der stadtbekannte Scherenschleifer, verschwand mit einer Verbeugung.
    »Macht euch keine
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