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Das Lied der Cheyenne

Das Lied der Cheyenne

Titel: Das Lied der Cheyenne
Autoren: Thomas Jeier
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zurückholen.«
    Sie zündeten kein Feuer an und hielten abwechselnd Wache. Die Nacht war lau, und sie hätte gern in seinen Armen gelegen, aber die Gegend war zu gefährlich. Sie waren im Jagdgebiet der Shar-ha, und es konnten jederzeit Krieger vorbeikommen. Sie wusste nicht, ob ihre Feinde die Pfeile gefunden hatten und nach ihr suchten, aber es war sehr wahrscheinlich. Die Spuren gehörten keinen weißen Männern, und es gab kaum andere Menschen in diesem Land. Es mussten Shar-ha sein, und sie mussten die beiden Krieger töten, bevor sie ihr Dorf erreicht hatten und das heilige Bündel unerreichbar für sie wurde.
    Sie wusste, was geschehen würde, wenn der Priester die heiligen Pfeile in seine Hände bekam. Er würde sie vernichten, und dann würde er alle Krieger seines Volkes ausschicken, um nach ihr zu suchen. Die Shar-ha würden sie finden und in ihr Dorf zurückbringen, und sie würde dem Morgenstern geopfert werden. Blaue Augen würde unter größten Qualen sterben, und sie würde zusehen und dann selber in den Tod gehen müssen.
    Der Gedanke ließ sie erschaudern. Sie zog ihr Büffelfell fester um die Schulter und sah Blaue Augen an, der einige Schritte von ihr entfernt an einem Baum lehnte und über den See blickte. Er war ein stattlicher Mann, und er verschmolz mit seiner Umgebung wie ein Krieger ihres Volkes. Er hielt seine Flinte schussbereit in der Armbeuge, und seine Augen erfassten die kleinste Bewegung und seine Ohren das geringste Geräusch. Den Kranich, der sich im Uferschilf verbarg, den Frosch, der leise quakend aus dem Wasser tauchte, die Eule, die irgendwo in den Bäumen hockte und in die Dunkelheit starrte.
    Aiee, er war ein guter Mann, und ihr Vater würde sich freuen, ihn zum Sohn zu haben. Er würde gleichberechtigt neben ihm und den anderen Kriegern der Hundesoldaten reiten. Neben Büffelhöcker und Gelber Wolf und Roter Mond. Seine Hautfarbe und seine Kleidung spielten keine Rolle. Auch Läuft-rückwärts und Weißes Pferd waren anders, und doch gehörten sie zu ihrem Volk. Er war mit den Geistern im Bunde. Er sprach eine andere Sprache, aber seine Zeichen waren dieselben, die alle Menschen auf den Ebenen benutzten. Er war weiß, aber er fühlte wie ein tsis tsis tas, und allein darauf kam es an.
    »Blaue Augen«, flüsterte sie in ihrer Sprache, damit er auf sie aufmerksam wurde und im Mondlicht ihre Zeichen sah. »Du bist ein tapferer Krieger. Wir werden zusammen leben.«
    Er lehnte seine Flinte an den Baum und nickte. »Ja, Büffelfrau, ich werde immer bei dir bleiben.«
    »Du wirst in meinen Tipi wohnen.«
    »Und du in meiner Hütte.«
    Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Er hatte recht, wer bestimmte, dass er in ihr Tipi zog? So mochte es der Brauch ihres Volkes vorschreiben, aber wie sahen die Gesetze seines Volkes aus? Er mochte wie ein tsis tsis tas denken, aber er gehörte auch zu seinem Volk, und sie konnte ihn nicht dazu zwingen, seine Wurzeln zu verleugnen. Er war kein Sklave, sie hatte ihn nicht entführt. Sie starrte auf den See hinaus. Der Kranich war durch eine Schlange aufgeschreckt worden und flog über das silberne Wasser. Wo war der Adler? Wo war ihr Schutzgeist? Wachten sie immer noch über sie? Konnten sie ihr sagen, wohin sie mit dem weißen Mann gehen sollte? Ihr werdet dieselbe Luft atmen, hatten sie gesagt. Aber wo?
    »Wir werden einen Platz finden«, erwiderte sie ausweichend, »die Geister werden ihn für uns finden.« Sie dachte über die Worte nach, die ihr Schutzgeist vor langer Zeit gesagt hatte. »Wird es Krieg geben zwischen unseren Völkern, Blaue Augen? Sind die Weißen so zahlreich wie die Sterne am Himmel?«
    Joshua wartete lange mit seiner Antwort. Auch er hatte inzwischen über ihre gemeinsame Zukunft nachgedacht. Er war ein Mann der Wildnis. Er hatte die Zivilisation verlassen, weil er in den Bergen besser leben konnte. Es war ein hartes und ein anstrengendes Leben, und es gab keine Polizei, die einen vor Verbrechern beschützte. Im Westen galt nur das Gesetz der Wildnis. Ein grausames Gesetz, das nur die Starken am Leben ließ und das jeden mit dem Tod bestrafte, der einen Fehler beging.
    Die Freiheit hatte ihren Preis, das hatte er immer gewusst. Aber er hatte diesen Preis in Kauf genommen. Er konnte nicht in einer Stadt wie St. Louis leben, er konnte auch nicht als Farmer bestehen, der immer an einem Ort bleiben musste. Er war losgezogen, um sich den Wind der Freiheit um die Ohren wehen zu lassen. Er musste immer weiterziehen und
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