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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Autoren: Cyrus Darbandi
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in großer Gefahr, aber es war nicht sein Körper, der in eine Falle lief, sondern seine Seele. Sie rief erneut nach seinem Namen, und wieder trug der Wind ihn davon. Ihre Stimme verlor sich zu nichts anderem als einem Flehen.
    Abraham durchquerte die Stadt so andächtig und scheinbar ergriffen wie ein Pilger. Aus den verfallenen Gebäuden starrten ihn die Toten an. Wie auf ein gemeinsames Kommando hoben sie alle zur selben Zeit einen Arm und streckten den Zeigefinger aus. Zeigetenauf Abraham, als markierten sie ihn. Beschuldigten sie ihn? Als Erin an einem der Häuser vorbeikam, warf sie einen Blick durch seine zerstörten, offenen Wände in das Innere. Drinnen waren Möbel und Schränke, Stühle und Tische in beiläufiger Raserei beiseitegeworfen und zertrümmert, der Boden war rostrot, und in einer Ecke unter einem Bündel Zeitungen lag ein verborgener Körper. Zwei Männer, hohl und von dunklem Licht erfüllt, irrten wie die unter Schock stehenden Opfer eines Verkehrsunfalles in dem Zimmer herum. Aber nicht sie waren hier die Opfer – denn in ihren Händen hielten sie Knüppel und Messer. Im nächsten Haus das gleiche Bild sinnloser Verwüstung. Diesmal waren es mehrere Körper, die einer Mutter und ihrer zwei Töchter, die wie groteske, lebensgroße Puppen auf einem Sofa arrangiert waren. Ein Mann stand dahinter, in seiner Hand pendelte ein Fleischermesser hin und her, sein Mund zuckte unkontrolliert und lautlos, und sein Finger war auf Abraham gerichtet. Anklagend, flehend? Auch er war ein Mörder, dessen Träume ihn Nacht für Nacht hierher beförderten, es war eine beinahe philosophische Strafe jenseits der Gesetzbücher und Paragrafen, wie Erin fand. Jetzt verstand sie: Das hier waren Schauplätze von Verbrechen. Im Gegensatz zu den Orten, die sie in der Nekropole Berlin gesehen hatte, waren diese Szenerien aber bevölkert. Anstatt leerer Räume, in denen das Grauen nur nachhallte – als Gespenst der Abwesenheit –, verrichteten die Toten und Träumenden hier erneut ihr Werk. Morde waren hier geschehen, und Opfer und Täter waren dazu verdammt, auf ewig zusammen zu sein in der Parodie einer Wiederholung dessen, was sie miteinander verband.
    Erin zog weiter.
    Als sie wieder nach Abraham suchte, hatte dieser die Grenze der Stadt erreicht. Jenseits von ihr war nicht mehr als eine endlose Steppe. Eine andere Gestalt näherte sich ihm aus diesem Ödland, ein dunkler Wanderer. Erin beeilte sich, aber sie konnte die Distanz nicht überbrücken. Jedoch erkannte sie den Wanderer, der jetzt ihrem Mann gegenüberstand.
    Es war sein Vater.
    Karl Abraham trug einen teuren Anzug und sah wie der perfekte Gentleman aus. Ein Mann der Frauen, selbstsicher, fast arrogant. Wie lange er auch unterwegs gewesen sein mochte, die Strapazen des Ödlands hatten ihm nicht zugesetzt. Er sah aus, als käme er direkt aus einer Sommerfrische, aus der alten, sepiagefärbten Fotografie einer anderen Zeit. Vornehm, akkurat, kultiviert – Erin konnte sich vorstellen, wie anziehend er auf Frauen wirkte. Aber das war nur Fassade. In dieser Realität hier, in der Essenz ihres dunklen Traumes, erkannte Erin seine wahre Natur.
    Seine Augen funkelten listig, und als er grinste, fletschte er dabei die Zähne wie ein Raubtier und entblößte seine ganze ordentliche bürgerliche Aufmachung als einen billigen Taschenspielertrick. Dahinter verbarg sich etwas zutiefst Verschlagenes, Grauenhaftes.
    Als Karl Abraham seinen Sohn umarmte, traf sein finsterer Blick Erin wie der Bannstrahl eines Dämons.
    (Sie erinnerte sich in diesem Traum an die Erzählungen eines früheren indianischen Schulfreundes. Der berichtete ihr von den Skinwalker genannten Gestaltwandlern: Dämonen, die unter die Haut von Tieren oder gar Menschen krochen, um sie bei Nacht, wenn diese sich in der Wüste aufhielten, zu holen. Abrahams Vater war ein solcher Gestaltwandler.)
    Abraham ließ die dämonische Berührung seines Vaters zu – ob aus eigenem Willen oder weil er willenlos war, hypnotisiert von diesen schrecklichen Augen, konnte sie nicht sagen. Sie sah, wie der Vater den Sohn aus der Stadt und in die Steppe führte. Sie wusste, dass ihm dort draußen Grauenvolles bevorstand. Aber als sie versuchte, mit einem letzten Schwung über diese Barriere zu setzen, um ihm zu folgen, fiel sie durch den Sand und durch die Zeit und zuallerletzt aus dem Traum selbst.
    Es war dies nur eine Variante von vielen Träumen ähnlicher Art, die sich wie Doppelagenten in Erins Schlaf stahlen. So
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