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Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition)
Autoren: Gemma Malley
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Bruder. Ich werde …«
    Der Bruder lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück. Seine glühenden Wangen glänzten nun von Schweiß, der sich auch in Tropfen unter seiner Nase sammelte. »Ja also. Das ist interessant«, bemerkte er nachdenklich, ohne Evie aus den Augen zu lassen. Dann beugte er sich vor. »Das Gehirn ist nämlich ein gefährliches Ding. Du weißt doch, dass es dich in die Finsternis führt, wenn du es zulässt? Wie beim Reiten muss man die Zügel straff halten und ganz bei der Sache bleiben, wenn man das Ziel nicht aus den Augen verlieren will.«
    Evie nickte wieder. Sie wusste das. Sie wusste das alles. Beim letzten Besuch hatte der Bruder sie angebrüllt, das Böse in ihr erzeuge diese Träume, und wenn sie die Lügen nicht aus ihrem Kopf bekäme, dann würde sie vom System bestraft werden. Sie hatte geweint vor Verzweiflung, ihn angefleht und versprochen, dass sie nicht mehr träumen würde, dass sie ab jetzt stark sein und ihn nicht enttäuschen würde. Sie rang die Hände, die ganz glitschig geworden waren vor Schweiß. War das der Tag der Wahrheit, vor dem sie sich schon so lange fürchtete?
    »Und das Unterbewusstsein ist das Allerschlimmste«, fuhr der Bruder fort. »Dort wohnt Finsternis, dort suchen sich Begierde, Habgier und Neid einen Raum, ohne dass der Verstand sie kontrollieren kann. Wir sind rein im Geist, aber die Neutaufe schützt uns nicht für immer. Unser Gehirn ist von Natur aus anfällig für das Böse; nach der Neutaufe jedoch liegt es an uns, gut zu bleiben.«
    »Ja, Bruder, das weiß ich«, stieß Evie verzweifelt hervor und wünschte sich, sie wäre jemand anders, ein guter Mensch, der nicht von schrecklichen Gedanken und Träumen heimgesucht wurde.
    »Ja«, antwortete der Bruder. »Ja, du weißt das. Aber ich habe mich mit meinen Bruderkollegen besprochen. Ich habe viel über dich nachgedacht, Evie. Und bin zu einem Schluss gekommen.«
    Evie schloss die Augen. Ein Schluss. Ein Ende. Er nahm sie mit.
    Sie holte tief Luft. Sie war bereit. Ihr ganzes Leben lang war sie immer bereit gewesen. Es war besser so. Die Wahrheit kam endlich ans Licht, und jeder konnte sie nun hassen, so wie sie sich selbst hasste. Das Böse hatte den Weg in ihr Gehirn gefunden. Deshalb tat sie Böses. Deshalb hatte sie böse Gedanken. Sie schlug die Augen auf. »Ja, Bruder?«
    Das Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht. »Ich glaube, ich verstehe jetzt. Und mir ist klar, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt. Der Mann in deinen Träumen ist nichts anderes als die Stadt.«
    Evie starrte ihn unsicher an. Sie verstand nicht.
    »Die Stadt.« Evies Mutter nickte bestimmt. »Siehst du, Evie? Es gibt letztlich doch keinen Grund zur Sorge. Oder, Bruder?«
    Der Bruder ließ ein Lächeln aufblitzen. »Nein, Delphine. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.« Er wandte sich wieder an Evie und lächelte nun übers ganze Gesicht. »Der Mann in deinem Traum ist nicht der Teufel. Deshalb konntest du ihn auch nicht vertreiben. Der Mann in deinem Traum steht für die Stadt, die dich trägt und unterstützt auf deinem Weg zur Tugend, die dich vor dem Bösen errettet. Für diese großartige Stadt, die sich um uns alle kümmert, die nur das Beste will für uns – dafür steht dieser Mann. Das ist die Geborgenheit, die du fühlst. Und deshalb kehrst du immer wieder zu diesem Traum zurück. Du bist nicht böse, Evie. Letztlich bist du doch nicht böse.«
    »Aber …« Evies Verstand raste. Das ergab alles keinen Sinn. Sie starrte ihren Vater an. Auch der lächelte.
    »Die Stadt«, meinte er, warf dem Bruder einen Seitenblick zu und lächelte sie wieder an. »Geht es dir da nicht gleich viel besser? Kein Grund zur Sorge, Evie. Jetzt nicht mehr.«
    Evie brachte ein Nicken zustande. Es fühlte sich nicht richtig an. Überhaupt nicht. Aber sie verstand, dass das ein Ausweg war – eine Möglichkeit, die Fragen zum Verstummen zu bringen und den verdächtigen Blicken der Eltern ein Ende zu machen.
    »Danke, Bruder«, sagte sie und versuchte, dankbar dreinzublicken und gütig.
    »Bitte sehr«, entgegnete der Bruder. »Ich bin froh, dass wir hier keine Kandidatin für eine zweite Neutaufe haben, nicht wahr, Evie?«
    Evie nickte. Eine zweite Neutaufe. Das letzte Mittel gegen eine verlorene Seele. »Ja«, meinte sie leise. »Ja, Bruder. Danke. Möge die Stadt über mich wachen und möge das System mich belohnen und maßregeln.«
    »Aber gern«, sagte der Bruder ernst. Dann hob er den Blick von Evie und wandte sich mit
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