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Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition)
Autoren: Gemma Malley
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fanden sich, sie schlang die Arme um seinen Hals und genoss das vertraute Gefühl, irgendwo hinzugehören. Eine leichte Brise strich über ihre Stirn, als sie Raffy küsste, blies ihr das Haar aus dem Gesicht, und mit einem Mal kam sie sich irgendwie wild vor und zügellos, wie die Zigeuner in den Geschichten ihrer Mutter.
    Es würde nicht gut gehen, das wusste sie. Das System würde dahinterkommen, was sie taten; sie wusste nicht, wie, aber es gab keinen Zweifel: Irgendwann kam alles heraus. Und wenn das System die Wahrheit erfuhr, würde es sie beide bestrafen für das, was sie taten. Sie würden Schande über ihre Familien und über die Stadt bringen. Sie würden Ds werden, oder noch schlimmer: auch ihre Eltern, weil sie in ihrer Fürsorgepflicht versagt hatten. Ihre Verlobung mit Lucas würde augenblicklich gelöst. Sie würde ihre Stelle bei der Behörde verlieren. Sie wäre eine Ausgestoßene, sie müsste mit ihren Händen arbeiten, Latrinen putzen wahrscheinlich; die anderen würden mit dem Finger auf sie zeigen und sie auf der Straße anspucken. Sie wusste das alles; das war es, was sie nachts quälte und sie wach hielt. Weswegen sie sich hasste und keine Freundschaften schloss oder irgendjemandem vertraute. Weil sie wusste, dass ihr Herz nicht so war wie bei den anderen, dass sie nicht gut war. Aber jetzt im Augenblick nahm sie dieses Schicksal an. Das System würde alles herausfinden und dann war selbst ein D noch zu gut für sie. Sie wäre eine Kandidatin für eine zweite Neutaufe; an der Schande würde sie ein Leben lang tragen.
    Aber jetzt und hier, in dem dunklen Versteck, während alle schliefen, schob Evie ihre Ängste beiseite. Das System wusste nichts von ihnen. Noch nicht. Vielleicht konnte es im Dunkeln nicht sehen. Und selbst wenn, dann war ihr das in diesem Augenblick egal. Sie fühlte sich frei, glücklich – so war das Leben lebenswert. Und außerdem kam es ihr so vor, als sei es bei den Zigeunern in den Gutenachtgeschichten ihrer Mutter immer ziemlich lustig zugegangen, bevor sie von den Wölfen in Stücke gerissen wurden.

3
    V or der Neutaufe brauchte man sich nicht zu fürchten. Denn darin unterschied sich die Stadt von allen anderen Gesellschaftsformen: Sie war ein friedlicher, ein guter Ort. Die Neutaufe war die großartige Idee des Großen Anführers gewesen, damals vor der Schreckenszeit, vor der Gründung der Stadt, als die Welt eine andere war und der Große Anführer ein Hirnspezialist, ein Arzt, ein Heiler gewesen war.
    Nur hatte er nicht so heilen können, wie er es wollte. Er hatte eine Hirnregion namens Amygdala oder Mandelkern entdeckt, die bei Geisteskranken und Kriminellen krankhaft vergrößert war. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dieses Organ die Wurzel allen Übels war, der grundlegende Schwachpunkt bei allen menschlichen Wesen. Nicht bei jedem war die Amygdala gefährlich, aber sie musste genau beobachtet werden, da sie jederzeit wachsen und die Herrschaft übernehmen konnte, sodass aus einem guten Menschen ein böser Mensch wurde. Jemand mit einer vergrößerten Amygdala kümmerte sich nicht mehr um andere Menschen, sondern wollte sie töten und verletzen, wollte stehlen und kämpfen. Alle Kriege wurden von Menschen mit einem großen Mandelkern angefangen; so jemand brachte die Leute dazu, einander zu hassen, und fügte anderen Schmerz zu. Genau diese Menschen hatten auch die Schreckenszeit entfesselt und stachelten andere auf, damit auch sie kämpften, Bomben warfen und alles zerstörten. Denn auch gute Menschen konnten schwach sein. Unter bestimmten Umständen war jeder in Gefahr.
    Evie fand es immer wieder seltsam, dass jemand etwas ablehnen konnte, durch das alles besser wurde. Aber das war eben das Problem mit dem Bösen – jeder schöpfte Verdacht und widersetzte sich allem, das die Welt vom Bösen befreien würde, weil sich das Böse bereits festgesetzt hatte und nicht ausgemerzt werden wollte.
    Und das alles nur wegen der Amygdala, einem kleinen Teil des menschlichen Gehirns, den das Böse eingenommen und zu seiner Heimstatt gemacht hatte. Das hieß, dass die Menschen von Natur aus selbstsüchtig, aggressiv, stolz, schwierig waren und ständig miteinander konkurrierten, was sie immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Kriege, Scharmützel, Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Morde. Schreckliche Dinge. Unvorstellbare Dinge. Und am schlimmsten war die Schreckenszeit selbst gewesen. Evie wusste Bescheid über die Schreckenszeit – alle wussten Bescheid.
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