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Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition)
Autoren: Gemma Malley
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dem Baum zu treffen. Das sollte ihr Ort sein.
    Fünf volle Jahre hatte es gedauert, bis sie wieder zusammenkamen, bis sie in ihrer sorgsam überwachten Unabhängigkeit unter dem Vorwand von Lauftraining oder einem Treffen mit genehmigten Freunden wieder zur Lichtung kommen konnten. Raffy schaffte es als Erster, und als Evie schließlich auch kam, erzählte er ihr, dass er seit einem Jahr auf sie gewartet habe, Tag für Tag, und er habe schon befürchtet, sie hätte ihn vergessen, er sei ihr gleichgültig, und es sei albern gewesen, die ganze Zeit an sie zu denken.
    Evie hatte ihn nicht vergessen, aber ihr war klar, dass sie sich auf etwas sehr Gefährliches einließen. So begannen sie, sich nachts zu treffen, heimlich, verstohlen, weil sie wussten, was passieren würde, wenn man sie erwischte – doch sie taten es trotzdem, denn das, was sie an diesen Ort und zueinander hinzog, war viel stärker als ihre Angst.
    Woche für Woche hatte Evie Raffy gesagt, sie müssten aufhören. Woche für Woche hatte Evie Raffy angefleht, dass er sie vergessen musste. Und Woche für Woche sagte er ihr, er würde sie nie vergessen, sie sei der einzige Mensch, der ihn verstehe; und wenn das verkehrt sei, dann müsse die ganze Stadt verkehrt sein. So etwas zu sagen, war abweichlerisch, und Evie wusste, dass das, was sie taten, ein schlimmes Ende nehmen musste. Und doch hatte Raffy auch recht, denn wenn sie von ihm getrennt war, fühlte sie sich leer, und wenn sie bei ihm war, dann war ihr, als wäre sie irgendwie zu Hause, auch wenn das keinen Sinn ergab. Überhaupt keinen Sinn.
    Deshalb wusste sie auch, dass der Bruder sich irrte, was ihren Traum anging, und dass er früher oder später die Wahrheit herausfinden musste. Niemand wusste, wie das System seine Bürger beobachtete, wie es sie überwachte. Man wusste nur, dass es geschah und dass es alles wusste. Und wenn es über Evie und das Böse in ihr noch nicht Bescheid wusste, dann war das nur eine Frage der Zeit. Sie hatte schon versagt, sie hatte sich als unwürdig gezeigt gegenüber der Stadt. Das Böse hatte schon von ihr Besitz ergriffen. Sie war ihm zu Willen, und sie erwies sich als unfähig, sich zu widersetzen.
    Rasch zog sie sich an – die Hose und die Bluse, die alle Mädchen in der Stadt trugen. Die Kleider wurden im Tuchviertel hergestellt, wo ihre Mutter arbeitete; es gab nur drei oder vier verschiedene Modelle. So wurde die Produktivität maximiert, man beugte der persönlichen Eitelkeit vor und vermied unnötigen Wettbewerb.
    Dennoch sahen die Menschen nicht gleich aus. Die Kleidung mochte gleich sein, aber das Abzeichen, das ans Revers genäht wurde, unterschied sie mehr, als irgendein Kleidungsstück es gekonnt hätte. Gelb für As, Blau für Bs, Rosa für Cs, Violett für Ds und … und das andere Abzeichen – das man allenfalls einmal kurz zu sehen bekam. In einem Blutrot, das allen Angst einflößte, die es sahen. Das Gebäude der Rangabteilung lag hinter dem Tuchviertel; zwei lange Warteschlangen zogen sich bis weit über den Bezirk hinaus, je einmal bei Tagesanbruch und noch einmal nach Arbeitsschluss am Abend: eine Schlange für Aufwertungen, die andere für Herabstufungen. Die alten Abzeichen wurden abgerissen und die neuen mit den eigentümlichen Nähstichen angeheftet, die nur die Rangwechsler beherrschten.
    Evie ging selten in die Nähe der Rangabteilung. Sie hasste den Anblick der Herabgestuften, ihre hängenden Schultern und ihren furchtsamen Blick, obwohl sie möglicherweise selbst die Rangänderung im System vorgenommen hatte. Vielleicht auch gerade deswegen …
    Sie sah auf ihr eigenes blaues Band hinunter und straffte den Rücken. Sie war eine B. Noch.
    Sie machte sich fertig, rannte nach unten, frühstückte und räumte den Tisch ab. Dann verabschiedete sie sich von den Eltern und verließ das Haus.
    Als sie sich ihrer Arbeitsstelle in Block Nummer 3 näherte, blickte sie sich unauffällig um, ob Raffy in der Nähe war. Er war nicht da und irgendwie war sie erleichtert. Doch auch ein bisschen enttäuscht, aber sie sagte sich, es war gut so, alles in allem. Ab heute würde sie ihre Gedanken nicht mehr an verbotene Orte schweifen lassen, ab heute sollten das Träumen und Zweifeln ein Ende haben.
    Entschlossen ging sie die Stufen zum Eingang hinauf, verstaute ihre Sachen im Spind und ging hinauf in ihre Abteilung. Sie strahlte die Aufseherin an, nahm sich ihren Stapel Akten und setzte sich an ihren Schreibtisch.
    »Morgen«, sagte sie zu Christine, die
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