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Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition)
Autoren: Gemma Malley
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Sache gut gemacht. Evie war im Grunde zu einem untadeligen Mitglied der Gesellschaft herangewachsen. Sie hatte gute Noten gehabt; sie konnte die Betrachtungen alle auswendig aufsagen. Sie war eine B, ein guter Rang. Sie war nie in ernsthafte Schwierigkeiten gekommen. Ihr angehender Ehepartner war Lucas, ein angesehener Abteilungsleiter. Sie hatte ihre Sache gut gemacht. Ihre Eltern hatten ihre Sache gut gemacht.
    Sie blickte auf die Berichte. Der erste war ein Wechsel von B nach C. Da ging das Leben zwar nicht in die Brüche, aber froh war man nicht über eine solche Nachricht. Evie sah es vor sich, wie der Brief ankam, mit dem offiziellen Stempel und dem rosafarbenen Band, das der Empfänger nun statt des blauen »B«-Bandes am Revers tragen musste. Sie konnte das Getuschel der Nachbarn hören, die den Hals reckten, um etwas zu sehen, konnte die Scham des betroffenen Mannes – einem Mr Alan Height – fühlen, der sich vor seiner Familie zu rechtfertigen suchte und das Haus am nächsten Morgen mit eingezogenen Schultern verlassen würde. Mittels des Rangs wachte das System über jeden, über die ganze Stadt. Es gab die Ränge A bis D. Die As waren die Besten – wirklich gute Menschen mit reinem Gewissen, die nie an sich selbst dachten, mutig, ehrbar und gerecht. Die Bs waren die Zweitbesten; auch sie waren gut, wenn auch nicht ganz so wie die As. Es waren vertrauenswürdige Mitbürger und sie hatten gute Arbeitsstellen in der Verwaltung. Cs waren im Großen und Ganzen in Ordnung; die meisten Leute gehörten diesem Rang an, sie waren aber nicht gefeit gegen Versuchungen, zeigten mitunter schlechte Neigungen und waren leicht zu beeinflussen. Cs mussten sich in Acht nehmen. Während der Schreckenszeit hatten sie die meisten Gräueltaten verübt, die meisten Bomben geworfen und die schlimmsten Grausamkeiten verübt. Sie waren nicht wirklich schlecht, aber sie waren den Einflüsterungen der Bösen erlegen. Natürlich hatte es damals noch keine Ränge gegeben. Man dachte, Menschen seien einfach Menschen. Und wer anderer Meinung war, der hatte das nicht ausgesprochen, aus Sorge, jemanden zu kränken. Es war aber keineswegs kränkend, Menschen vor ihrer eigenen Schwäche zu warnen. Es war nicht kränkend, sie darauf aufmerksam zu machen, sich um sie zu kümmern, sie zu überwachen und für ihre Sicherheit zu sorgen. Und dazu waren die Ränge da. Körperliche Unterschiede waren ja leicht auszumachen – wer war kräftig und wer war schwach, wer musste sich vor der Sonne schützen, wer aß zu viel und musste sich mehr bewegen. Keiner zweifelte daran, dass die Menschen äußerlich verschieden waren. Aber innerlich? Auch innerlich unterschieden sie sich. Man musste das nur erkennen können und auf die richtigen Anzeichen achten.
    Evie machte sich daran, die Rangänderung vorzunehmen. Sie gab die nötigen Codes ein, prüfte und vergewisserte sich noch einmal, dass alles seine Richtigkeit hatte. Mitgefühl für den Betroffenen war bedeutungslos und unsinnig, das wusste sie. Wie in Betrachtung Nummer 26 erklärt wurde, war eine Rangänderung weder ein glücklicher noch ein trauriger Vorfall, sondern eine selbst herbeigeführte Tatsache. Aber Evie konnte einfach nicht anders; sie konnte den Gesichtsausdruck ihrer Nachbarin Mrs Chiltern nicht vergessen, als diese von C auf D herabgestuft wurde. Die Scham darüber hatte sie auch dann nicht abgelegt, als sie schon längst wieder in Rang C aufgestiegen war. Sie hatte sich nie mehr mit Evie über den Gartenzaun hinweg unterhalten oder war zum Tee vorbeigekommen. Sie war nicht willkommen – das hatten Evies Eltern ganz deutlich gezeigt – und selbst im anderen Fall wäre sie nicht gekommen. D war gleichbedeutend mit abartig. D war gefährlich. Was Mrs Chiltern sich hatte zuschulden kommen lassen, hatte Evie nie erfahren, aber das spielte auch keine Rolle. Das System wusste Bescheid und das genügte.
    Das System wusste alles.
    Evie war inzwischen fast fertig mit Mr Heights Rangänderung. Herabstufungen waren stets leichter zu bewerkstelligen als Aufwertungen; weniger Prüfungen und nochmalige Überprüfungen, weniger Codes, die immer wieder eingegeben werden mussten, damit die Änderungen alle korrekt waren. Jeden Tag bewertete das System alle Einwohner der Stadt. Jede Woche waren Hunderte von Rangänderungen nötig, um Ausgleich zu schaffen, um die Gesellschaft zu regulieren, das Gute zu belohnen und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ordnung bedeutete Frieden, durch das Gute wurde das
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