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Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition)
Autoren: Gemma Malley
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erbauten grauen Gebäude im Stadtzentrum, nur ein paar Minuten entfernt vom Stadtplatz mit dem prächtigen Standbild des Großen Anführers. Fast alle Regierungsgebäude waren neu erbaut, an Orten, die nach der Schreckenszeit vom Schutt der alten Bebauung geräumt worden waren. Für den Großen Anführer war es ein neuer Anfang gewesen – eine Möglichkeit, wie die Stadt sich von allen vorherigen Städten, von deren Verderbtheit und deren Sonderlingen unterscheiden konnte. Aber nicht alles war neu. Die Mittel waren knapp, und Häuser, die noch sicher standen, hatte man ins Stadtbild eingegliedert und die Spuren der vorigen Bewohner getilgt. Nun waren sie ein anerkannter Teil dieser neuen, sicheren Heimat – genau wie die Bürger, die eine zweite Chance bekommen hatten, ein neues Leben und eine bessere Zukunft.
    Schon während sie sich dem Gebäude näherte, schlüpfte Evie aus dem Mantel, damit sie ihn schnell und ohne sich aufzuhalten in ihren Spind hängen und in ihre Abteilung hinaufgehen konnte. Herumtrödeln wurde nicht geduldet in der Stadt; nur ein tätiger und konzentrierter Geist war ein guter Geist, hieß es in den Betrachtungen. Herumstehen und Plaudern dagegen waren der ideale Nährboden für das Böse, für die Versuchung.
    Doch als sie die Stufen zum Eingang erreichte, hielt sie inne und errötete. Da stand Lucas.
    »Evie.« Er lächelte förmlich. Sein blondes Haar schimmerte fast weiß in der Morgensonne, und seine klaren blauen Augen strahlten so durchdringend und doch so gefühllos, dass Evie manchmal gute Lust hatte, ihn zu schlagen, nur um zu sehen, ob diese Augen überhaupt weinen konnten. Daran konnte man natürlich sehen, was für ein schrecklicher Mensch sie war. Nur ein schrecklicher Mensch würde solche Gedanken haben gegenüber dem Mann, den er heiraten würde. »Guten Morgen. Wie geht es dir heute?«
    Er kam auf sie zu, die Hand zu einem förmlichen Gruß ausgestreckt, wobei seine goldene Uhr funkelte. Sie gab ihm die Hand, zwang sich zu einem Lächeln und rief sich in Erinnerung, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass Lucas sie erwählt hatte. Eine Ehe wurde von beiden Partnern und von beiden Familien angebahnt. Doch es war kein Geheimnis, dass Leute wie Lucas ziemlich freie Wahl hatten. Evie war sich noch immer nicht sicher, wie er ausgerechnet auf sie gekommen war. »Gut«, antwortete sie. »Und dir?«
    »Sehr gut.« Er lächelte. Dann hob er etwas ungeschickt die Braue. »Na, dann gehen wir mal lieber an die Arbeit.«
    »Allerdings.« Evie nickte und versuchte, sich ihre gemeinsame Zukunft als Ehepaar vorzustellen, das im selben Bett schlief und sich zwanglos unterhielt statt in diesem unangenehmen Wechselspiel von gestelzten Sätzen und noch peinlicherem Schweigen. Aber sie konnte es nicht vor sich sehen, konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde.
    Er wandte sich um, und sie sah ihm nach, wie er auf seinen Bruder zuging, der am anderen Ende der Treppe auf ihn wartete. Wo Lucas war, war auch Raffy nicht weit, und der war so verschieden von seinem Bruder, dass er sein Negativ hätte sein können: dunkle zerzauste Haare, dunkle Augen mit stechendem Blick.
    Es hieß, Lucas käme nach der Mutter, Raffy dagegen sei ganz der Vater – und zwar mehr als nur dem Aussehen nach. Es hieß, dass Lucas seinem Bruder deswegen nicht von der Seite wich; er wollte ihn im Auge behalten und ihn kontrollieren. Er traute ihm nicht.
    Genau genommen traute wohl niemand Raffy so recht.
    Wortlos beobachtete Evie, wie Lucas mit Raffy in Richtung Eingang ging. Sie waren schon fast durch die Tür, als Raffy sich noch einmal umwandte, und ihre Blicke trafen sich für nicht einmal eine Sekunde. Lucas sah ihn fragend an, aber Raffy hatte sich schon wieder weggedreht, und beide verschwanden. Lucas ging bestimmt in den ersten Stock, wo sich die Büros der Abteilungsleiter befanden. Raffy arbeitete im dritten Stock in einer der Männerabteilungen. Evie musste bis zum vierten Stock hinauf, zu den Frauenabteilungen.
    Mit acht Jahren wurden Jungen und Mädchen getrennt und blieben getrennt, bis sie erwachsen waren, damit keine unreinen Gedanken aufkommen konnten. Sie wurden getrennt aufgezogen und arbeiteten getrennt, wenn sie mit vierzehn die Schule verließen. Für die Suche nach dem passenden Ehepartner veranstalteten die Eltern besondere Treffen. Evie war auf dem Weg zur Treppe und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum die Trennung der Geschlechter bei ihr ganz offensichtlich nicht die gewünschte
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