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Das letzte Relikt

Das letzte Relikt

Titel: Das letzte Relikt
Autoren: Robert Masello
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gewusst.
    Die Türen klapperten erneut. Der Querbalken wackelte, und durch den schmalen Spalt zwischen den Torflügeln schoss ein heller Lichtstreifen wie ein leuchtender Dolch auf den dreckigen Boden.
    »Ich gehe runter«, sagte Carter, doch Beth umklammerte erneut seinen Ärmel und sagte: »Nein! Bleib hier!«
    Aber Carter wollte nicht abwarten, bis der Feind zu ihm käme. Er kletterte die Leiter hinab und schlich verstohlen auf die Tür zu.
    Die Torflügel dröhnten erneut, als würden sie von einem Vorschlaghammer getroffen, und ein Stück Holz flog davon. Carter kroch zur Tür, wartete, bis alles still war und schob dann vorsichtig ein Auge vor die Öffnung.
    Ein anderes Auge starrte ihm direkt entgegen, so nah, dass die Wimpern beinahe seine eigenen berührten.
    »Wir sind eigentlich keine Feinde«, sagte Arius. Sein Atem roch wie ein immergrüner Wald nach dem Regen. Carter wollte zurückspringen, aber etwas hielt ihn an Ort und Stelle. Im Auge des Engels war etwas, eine sich kräuselnde Flamme in der Iris, die ebenso hypnotisierend wirkte wie der Anblick eines knisternden Feuers.
    »Wir haben ein gemeinsames Interesse.«
    Carter konnte sich denken, was das war, und das schickte einen kalten Schauder über seinen Rücken. Ohne den Blick von der Öffnung zwischen den Torflügeln abzuwenden, wich er ein paar Zentimeter zurück. Doch es war, als versuchte er, einer unsichtbaren Macht Widerstand zu leisten. In der Stimme des Engels lag eine eindringliche Verführungskraft, etwas, das sie … vertraut wirken ließ. Wie die Stimme eines alten Freundes, den man seit Jahren nicht gesprochen hatte.
    Und den man zutiefst vermisst hatte.
    Carter hatte das Gefühl, seine Hände, seine Gedanken, selbst sein Wille würden auf raffinierte Weise umsponnen. Er wusste, was er tun musste, wusste, was er wollte, aber Arius’ Stimme, dieses goldene Licht, der frische Waldgeruch überwältigten ihn beinahe.
    Eine lange weiße Hand, perfekt geformt bis auf den Mittelfinger, von dem nur noch ein Stumpf übrig war, schob sich durch die Öffnung unter den Querbalken, der die Tür verschloss. »Lass uns reden«, sagte Arius ruhig, so wie ein Vermittler der Polizei jemanden ansprechen würde, der gerade im Begriff war, von einer Brücke zu springen.
    Stumm vor Entsetzen sah Carter zu, wie die Finger den Querbalken packten und in die Höhe schoben. Der Balken hob sich einen Zentimeter, dann zwei. Er war bereits fast ganz gelockert, als Beth vom Heuboden rief: »Carter! Nein!«
    Es war, als hätte ihm jemand einen Eimer mit Eiswasser ins Gesicht geschüttet.
    »Halt ihn auf, Carter!«
    Er schüttelte sich, schaute erneut auf die schmale Hand, die den Querbalken anhob, und stellte fest, dass sie jetzt eher der weißen knöchrigen Hand eines Skeletts glich. Es war die Hand, die seinen Freund Joe getötet hatte, die Hand, die Tod und Zerstörung über die Welt bringen konnte. Krachend riss er den Querbalken nach unten, und die Hand wurde hastig zurückgezogen.
    Die Türflügel stießen erneut gegeneinander.
    Abrupt erlosch das helle Licht auf der anderen Seite, und genauso plötzlich herrschte Stille. Kein wütender Aufschrei, kein verärgerter Fluch, nicht einmal Flügelschlagen. Carter stand ganz still und lauschte, aber alles, was er außer seinem eigenen flatternden Atem hörte, war das Zirpen der Grillen.
    Er trat zurück, den Blick immer noch auf die Scheunentore geheftet. »Wo ist er?«, hörte er Beth fragen.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber er ist doch weg, oder? Das Licht ist verschwunden.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Wunschdenken und Beinahe-Hysterie mit.
    Ja, das Licht war verschwunden. Ja, es war kein Ton zu hören. Und so sehr Carter auch wünschte, es könnte so einfach sein, wusste er, dass es das nicht war. Er wusste nicht, wo Arius war oder was er vorhatte, aber tief im Herzen war ihm klar, dass er nicht gegangen war.
    Er entfernte sich noch weiter von der Tür. Der einzige Weg, wie er es mit Sicherheit herausfinden konnte, war, das Tor zu öffnen und sich draußen umzuschauen.
    Aber dazu war er noch nicht bereit.
    Er drehte sich um und sah Beths Kopf über die Kante des Heubodens lugen. Ihr Gesicht war schmutzig und zerkratzt, das dunkle Haar verfilzt, halb an ihrem Kopf angefroren und mit hellen abgebrochenen Strohhalmen verziert. Trotzdem war er sich sicher, dass sie nie in ihrem Leben schöner ausgesehen hatte. Erneut erklomm er die Leiter, ohne die Scheunentür aus den Augen zu lassen. Beth fiel ihm um
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