Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Christiane Fux
Vom Netzwerk:
offenbar der Mörder selbst.
    Erik, der wie einst Anna häufig unter Schlafstörungen litt, hatte in der vorangegangenen Nacht ein Schlafmittel genommen. Nun fühlte sich sein Kopf wie mit Watte ausgestopft an. In weniger als einer halben Stunde würde er zum ersten Mal seinem leiblichen Vater gegenüberstehen. In seiner Jugend hatte er sich diese Begegnung – die Informationen zum Tod seines Erzeugers ignorierend – in unterschiedlichsten Varianten ausgemalt. Sein Vater hatte sich bei diesen Phantasietreffen immer als ein strahlender Held, als märchenhaft reicher Industriebaron oder als unschlagbarer Fußballgott entpuppt. Stattdessen sollte er nun also einen Mörder treffen. Einen Mörder, der auch seine Mutter umgebracht hatte. Der Türsummer riss Erik aus seinen Gedanken. Er ging zu dem unscheinbaren Besuchereingang in einem Seitenflügel des Gebäudes. In einem schmalen Durchgang stand eine Reihe von Schließfächern. Ein Schild forderte ihn dazu auf, dort Wertgegenstände und Mobiltelefon zurückzulassen. Er läutete, und die schwere Eisentür öffnete sich mit einem Summen.
    Charlie Lorenz machte seinen Job als Pförtner seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Seine Kollegen nannten ihn wegen seines imposanten Schnurrbarts, den er sich in den frühen 80er-Jahren gezüchtet hatte, »Magnum«. Obwohl Charlie seine Frau Anja von Herzen liebte, hatte nicht einmal sie ihn dazu bringen können, sich das unmodische Ungetüm abzurasieren. Charlie machte seine Arbeit wirklich gern. Er sah die Ströme der Besucher mit Gelassenheit an sich vorbeiziehen. Mütter, die ihre Söhne besuchten, Kinder ihre Väter, Ex-Knackies ihre Kumpane, Anwälte ihre Klienten. »Jungfrauen«, also Besucher, die zum ersten Mal in die U-Haft kamen, erkannte er auf den ersten Blick. Auf der anderen Seite der panzerglasgesicherten Scheibe stand ein besonders nervöses Exemplar. Ein älterer Mann, der seine dunkelblaue Wollmütze in den Händen knetete.
    »Mein Name«, sagte der Dicke und räusperte sich, »mein Name ist Erik Florin. Ich habe einen Termin. Ich möchte zu Professor Bergman.«
    Charlie hob die Brauen. Besuch für den Professor. Wie üblich hatte das Gerücht eines prominenten Neuankömmlings schnell die Runde gemacht. Es hieß, dieser Bergman sei ein Naziverbrecher. Charlie konnte sich nicht erinnern, in seinen langen Dienstjahren einmal einen solchen Kandidaten beherbergt zu haben.
    Die dunkle Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hatte auch an diesem Gebäude seinen Abdruck hinterlassen. Wie alle Angestellten hatte Charlie Lorenz die Geschichte der JVA bei seiner Einführung durchgenommen. Das 1870 erbaute Gebäude war von den Nazis eifrig genutzt worden. Bis 1945 hatte in einem der Höfe eine Guillotine gestanden. Unter Hitler waren die Köpfe besonders oft gerollt. Obwohl Charlie eigentlich kein Verfechter der Todesstrafe war, gab es doch Menschen, für die er gern eine Ausnahme machen würde. Naziverbrecher gehörten dazu. Er wunderte sich nur kurz, dass dieser so schüchterne Mann den Insassen besuchen wollte.
    Ein Blick auf die Besucherliste zeigte ihm, dass der harmlos wirkende Mensch der Sohn des Häftlings war. Armer Kerl, dachte er. Er forderte Erik Florin auf, seinen Ausweis durch die Schublade unterhalb der Glaswand zu reichen, und prüfte die Personalien. Erik musste den Inhalt seiner Taschen und seine Jacke auf ein Laufband legen, das sie durch ein Röntgengerät beförderte. Er selbst wurde angewiesen, durch einen Metalldetektor zu schreiten. Erik kam sich albern vor. Wie am Flughafen, dachte er, der nur selten in seinem Leben geflogen war. Eine weitere Tür summte, hinter der ihn eine uniformierte Vollzugsbeamtin mit langen blonden Locken erwartete. Erik staunte. Loreley im Knast. Mit ausdrucksloser Miene informierte die Schönheit ihn noch einmal über die Regeln des Besuches. Der würde in Anwesenheit eines Aufsehers stattfinden. Und er dürfe dem Häftling keine Mitbringsel übergeben. Erik nickte. Sie geleitete ihn in einen tristen, engen Besucherraum. Es roch leicht muffig, denn nirgends gab es ein Fenster. In dem winzigen Kämmerchen standen sich zwei Stühle gegenüber, die durch eine hölzerne Wand getrennt waren. Als er sich setzte, stieß Erik sich die Knie und bemerkte, dass die Wand bis zum Boden reichte. Vermutlich wollte man so heimliche Übergaben verhindern, von Drogen oder Mobiltelefonen, vermutete er. Ein weiterer Stuhl war so positioniert, dass der Aufseher Besucher und Gefangenen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher