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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment
Autoren: Philip Kerr
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hier in Buenos Aires lebt eine Viertelmillion. Sie wohnen in drei Bezirken, aus denen Sie sich unbedingt fernhalten sollten: Villa Crespo, Belgrano und Once. Wenn Sie vermuten, dass man Sie erkannt hat, verlieren Sie nicht den Kopf. Machen Sie keine Szene. BewahrenSie Ruhe. Die Polizei in diesem Land ist langsam und nicht sonderlich hell. Wie der
chancho
auf dem Schiff vorhin. Wenn es Ärger gibt, dann wird man Sie genauso verhaften wie den Juden, der Sie erkannt haben will.»
    «Dann besteht wohl keine große Aussicht auf ein Pogrom hier?», bemerkte Eichmann.
    «Gütiger Himmel, nein!», antwortete Fuldner.
    «Gott sei Dank», sagte Kuhlmann. «Ich habe die Nase voll von all diesem Irrsinn.»
    «Wir hatten nichts mehr in dieser Art seit der sogenannten Tragischen Woche. Die Anarchisten, wissen Sie? Das war 1919.»
    «Anarchisten, Bolschewiken, Juden, das ist doch alles das Gleiche!», sagte Eichmann, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich gesprächig war.
    «Während des Krieges gab es eine Verordnung von der Regierung, die jegliche jüdische Emigration nach Argentinien verbot. Doch die Dinge haben sich inzwischen wieder geändert. Die Amerikaner haben Perón unter Druck gesetzt, die argentinische Politik gegenüber den Juden aufzuweichen und ihnen zu gestatten, hierher zu kommen und sich niederzulassen. Es würde mich nicht überraschen, wenn auf Ihrem Schiff zahlreiche Juden gewesen wären.»
    «Was für ein tröstlicher Gedanke», sagte Eichmann.
    «Keine Sorge», beeilte sich Fuldner zu sagen. «Sie sind ziemlich sicher hier. Die
porteños
scheren sich einen Dreck um das, was in Europa passiert ist, und die Juden interessieren sie noch weniger. Abgesehen davon glaubt niemand auch nur die Hälfte dessen, was die englischen Zeitungen und Wochenschauen verbreiten.»
    «Die Hälfte wäre schon schlimm genug», murmelte ich. Jetzt wechselten sie hoffentlich ihr Thema, denn die Unterhaltung gefiel mir gar nicht. Ich mochte Eichmann immer weniger leiden. Obwohl er in den letzten vier Wochen so gut wie kein Wort gesprochen und seine abscheulichen Ansichten für sich behalten hatte. Um eine endgültige Meinung über Carlos Fuldner zu haben, war es noch zu früh.
    Nach seinem pomadisierten Hinterhaupt zu urteilen, mochte Fuldner um die vierzig sein. Sein Deutsch war fließend, doch seine Aussprache ein wenig zu weich. Um die Sprache Goethes und Schillers korrekt zu sprechen, muss man seine Stimmbänder wohl mit dem Bleistiftspitzer schärfen. Fuldner redete jedenfalls gern, das war klar. Er war weder groß noch klein, weder sah er besonders gut aus, noch war er hässlich. Er war ziemlich gewöhnlich. Ein gewöhnlich aussehender Mann in einem guten Anzug mit guten Manieren und gepflegten Händen. Ich konnte sein Gesicht noch einmal länger betrachten, als wir an einer Kreuzung hielten und er sich umdrehte, um uns Zigaretten anzubieten. Sein Mund war breit und sinnlich, seine Augen blickten träge, doch intelligent, und seine Stirn war so hoch wie ein Kirchendach. Wenn es darum gegangen wäre, die Rollen in einem Spielfilm zu besetzen, hätte er den Priester gespielt oder einen Anwalt. Oder vielleicht auch einen Hotelmanager. Er schnippte eine Dunhill aus der Packung und steckte sie an, dann begann er, ein wenig von sich selbst zu erzählen. Das war auch ganz gut. Weil es nicht mehr um Juden ging, verlor Eichmann rasch das Interesse und starrte gelangweilt aus dem Fenster. Ich hingegen bin ein Mensch, der höflich zuhört, wenn sein Erretter Geschichten über sich selbst erzählt. Deshalb hatte meine Mutter mich damals zur Sonntagsschule geschickt.
    «Ich wurde hier in Buenos Aires als Kind deutscher Einwanderer geboren», begann Fuldner. «Für eine Weile gingen wir zurück nach Deutschland, nach Kassel, wo ich zur Schule ging. Nach der Schule habe ich in Hamburg gearbeitet. Ab 1932 war ich bei der SS und wurde Hauptsturmführer, bevor man mich in den SD, den Sicherheitsdienst der SS, versetzte und auf eine geheimdienstliche Mission nach Argentinien schickte. Seit dem Krieg haben ich und ein paar andere VIANORD ins Leben gerufen, ein Reisebüro mit dem Zweck, unseren alten Kameraden bei der Flucht aus Europa behilflich zu sein. Selbstverständlich wäre das alles nicht möglich ohne direkte Hilfe vom Präsidenten und seiner Frau Eva. Während EvitasReise nach Rom zum Papst im Jahr 1947 begriff sie, dass es notwendig war, Männern wie Ihnen einen neuen Start ins Leben zu ermöglichen.»
    «Dann gibt es also doch einen
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