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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment
Autoren: Philip Kerr
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Grund.»
    «Lass mich ausreden. Wenn du ein wenig älter wirst – vielleicht zu alt   –, dann begreifst du, dass es der entscheidende Unterschied ist. Bei allem und jedem.»
    Noch als ich es sagte, wurde mir klar, dass es nicht geschehen würde. Sie würde nicht älter werden. Nicht, wenn Colonel Montalban so übel war wie seine Worte.
    «Liebe ist der einzige Grund, den man für irgendetwas braucht, Engel. Der einzige Grund auf der Welt, weshalb du mir vertrauen kannst. Es mag kein Grund sein, der einen der alten griechischen Philosophen befriedigt hätte. Aber ich weiß, dass man dem Gefühleine Chance geben muss, wenn man herausfinden will, ob jemand das ist, was wir suchen oder zu suchen glauben. Es braucht ein wenig Zeit. Lass es uns folgendermaßen machen. Komm für ein paar Tage mit mir. Als würden wir noch einmal mit dem Zug nach Tucumán fahren. Und wenn es nicht funktioniert, kannst du mich zum Teufel jagen und nach Buenos Aires zurückkehren, weil du lieber stirbst, als mit einem Kerl wie mir zu leben. Sag jetzt nichts mehr, Anna. Denk sorgfältig nach über meine Worte. Sprich mit deinem Vater. Ich habe es getan. Er kann dir sicher einen guten Rat geben. Väter können das normalerweise. Ich kaufe einen Fahrschein für dich für heute Abend. Wir können schneller in Montevideo sein, als es dauert, dir zu sagen, dass ich im Büro der Cia de Navegacio Fluvial Argentina auf dich warte.»
    Mit diesen Worten wandte ich mich ab und ging.

SECHSUNDZWANZIG
BUENOS AIRES
1950
    An jenem Abend regnete es stark. Der Fluss lag ruhig da. Die Flut stand hoch, und der Mond war voll. Auf der anderen Seite des Río de la Plata war Uruguay. Ich stand im Büro der CNFA und starrte durch das Fenster nach draußen auf den Pier und die Fähre und die Wellen, die gegen die Landungsbrücke schwappten. Immer wieder sah ich auf die Uhr. Mit jedem zitternden Schritt des Sekundenzeigers spürte ich, wie meine Hoffnung kleiner wurde. Ich war nicht der erste Mann, der von einer Frau versetzt wurde. Ich würde nicht der letzte sein. Deshalb wird Poesie geschrieben.
    Was soll man tun, wenn man weiß, dass man getötet wird, falls man bleibt, um mit der Frau zusammen zu sein, die man liebt? Gemeinsam dem Tod ins Auge sehen wie in einem lausigen Kinofilm? So funktioniert es nicht in der Realität. Man geht hinterher nicht Hand in Hand aus dem Bild, während ein unsichtbarer Chor singt, der die Ankunft im Paradies verkündet. Wenn der Tod kommt, dann ist es üblicherweise brutal und hässlich und schmerzhaft. Ich muss es wissen. Ich habe es schließlich oft genug gesehen.
    Eine Stimme kam über den Lautsprecher. Der letzte Aufruf für die Passagiere der Einundzwanzig-Uhr-Fähre nach Montevideo.
    Sie würde nicht kommen.
    Ich ging über den Pier und spürte, wie er sich unter meinen Füßen auf und ab bewegte wie die atmende Brust eines schlafenden Riesen. Regen sprühte mir ins Gesicht. Ein melancholischer Regen, wie die Tränen des Nachtwindes, der mir die Haare zerzauste. Ich verließ Argentinien und betrat die Fähre. Andere Passagiere warenan Bord, doch ich nahm keine Notiz von ihnen. Ich blieb an Deck, wartete auf das Wunder, das nicht geschehen würde. Ich fing sogar an zu hoffen, dass sich der Colonel zeigte, um mich zu verabschieden, sodass ich ihn um Annas Leben anflehen konnte. Doch auch er kam nicht.
    Die Maschinen erwachten rumpelnd zum Leben. Wir warfen die Leinen los. Das Wasser geriet in Bewegung und bildete einen Malstrom unter dem Schiff. Wir legten ab. Langsam entfernten wir uns vom Pier. Von Buenos Aires. Von ihr. Wir verschwanden langsam in der Dunkelheit. Überwältigt von Selbstmitleid und innerem Aufruhr wäre ich fast über Bord gesprungen und hätte versucht, zurück zum Ufer zu schwimmen. Stattdessen ging ich unter Deck.
    In der Kombüse zündete ein Steward einen kleinen Gasring an, um Wasser für Kaffee aufzusetzen. Die blaue Flamme kitzelte den Kessel, der leise rauschte. Und ich stellte mir jene andere Flamme vor, jene kleine, stille Flamme in meinem Innern, die einfach weiterbrannte, ohne Freude, ohne Frieden, ohne Hoffnung, ohne Hilfe, allein, ein einsamer Schmerz. Ihretwegen. Die Flamme brannte ihretwegen.

NACHWORT DES AUTORS
     
    Viele Informationen über die Nationalsozialisten in Argentinien verdanke ich Uki Goñis ausgezeichnetem Buch
Odessa: Die wahre Geschichte
. Für jeden, den dieses Thema interessiert, ist es ein wichtiges Buch.
    Direktive elf wurde vom argentinischen Außenminister José Maria
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