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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment
Autoren: Philip Kerr
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Foltern fertig sind, setzen sie dich in ein Flugzeug und werfen dich über dem Río de la Plata aus der Tür. Wenn du hier bleibst, Engel, dann kannst du nur noch beten, glaub mir. Ich habe gestern im Flugzeug jemanden beten hören. Wieder und wieder. Und weißt du was? Es hat nichts genutzt. Sie haben ihn trotzdem rausgeworfen. Diese Leute sind immun gegen Gebete. Sie hören sich deine Gebete an, und dann lachen sie und werfen dich raus.»
    «Nein!» Sie hatte Tränen in den Augen, doch sie schüttelte ungläubig den Kopf. «Das ist nur eine weitere von deinen Lügen! Genauso, wie du mir erzählt hast, dass die Leute in den Massengräbern von Dulce keine Juden waren. Du sagst das nur, weil du den Gedanken nicht erträgst, allein von hier wegzugehen. Ich kann verstehen, dass du mich gern dabeihättest. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich wahrscheinlich das Gleiche sagen. Ich mag dich sehr, Bernie, aber ich werde darüber hinwegkommen. Wir beide werden darüber hinwegkommen. Ich wünschte nur, du würdest aufhören, mir Angst zu machen. Das ist ziemlich gemein von dir.»
    «Du glaubst nicht etwa ernsthaft, dass ich das alles nur erfinde?»
    «Warum nicht? Bernie, alles an dir ist erfunden. Ich weiß überhaupt nichts über dich.»
    «Ich habe dir im Zug alles erzählt, was es über mich zu wissen gibt.»
    «Und woher soll ich wissen, ob es stimmt? Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass du mit einem falschen Pass in Argentinien lebst. Selbst dein angeblicher Name, den du deinen alten Kameraden genannt hast – denen, die dich hergebracht haben   –, selbst das ist nicht dein richtiger. Dieser Mann in Wiederhold, auf der Ranch, dieser Heinrich Grund. Du hast mir erzählt, er wäre ein Mörder, aber du kennst ihn. Er hat dich begrüßt wie einen alten Freund.»
    «Das war er auch einmal. Früher, vor dem Krieg. Vor Hitler. Ich habe eine Menge Freunde verloren in der Zwischenzeit.»
    «Ich weiß überhaupt nichts von dir. Du könntest genauso gut einer von ihnen sein. Wie kann ich dir vertrauen? Wie kann ich ein Wort von dem glauben, was du mir erzählst? Ich bin eine Jüdin, und du bist ein ehemaliger S S-Scherge . Wie kann es zwischen uns jemals Vertrauen geben?»
    «Du bist zu mir gekommen, damit ich dir helfe», erinnerte ich sie. «Ich habe dir geholfen, so gut ich konnte. Ich versuche auch jetzt noch, dir zu helfen. Ich habe keine Gegenleistung verlangt. Was immer du mir gegeben hast, hast du getan, weil du es wolltest. Ich habe dir schon einmal das Leben gerettet und versuche es gerade wieder. Ich bringe mein eigenes Leben für dich in Gefahr. Deinetwegen muss ich das Land verlassen. Vielleicht zählt das in deinen Augen nicht viel. Ich bin trotzdem froh, dass ich es getan habe. Ich hätte alles für dich getan. Ich denke, ich versuche dir zu sagen, dass ich dich liebe, Anna. Was sagst du nun? Es gibt keinen anderen Grund. Wenn nur ein kleiner Teil von dir das Gleiche empfindet wie ich, dann vergiss alles andere. Vergiss alles, was dein Kopf dir sagt, und hör auf dein Herz, weil das alles ist, was zählt zwischen zwei Menschen. Ich weiß, dass ich kein toller Fang bin für ein Mädchenwie dich. Du könntest es weit besser treffen, zugegeben, und wenn ich nicht wüsste, dass du aus dem Flugzeug geworfen wirst, würde ich dir wahrscheinlich sagen, dass du gehen und dir jemand Besseren suchen solltest als mich. Aber so ist es nicht. Ich kann schon die Schwellungen in deinem Gesicht sehen, Engel, und den Wind in deinen Haaren.»
    Ich zog sie zu mir und küsste sie leidenschaftlich, als könnte ich sie so zur Vernunft bringen. Sie schlang die Arme um mich und erwiderte meinen Kuss, sodass ich eine oder zwei Minuten lang fast glaubte, es könnte funktionieren.
    Dann sagte sie: «Ich liebe dich auch. Trotzdem werde ich das Land nicht für dich verlassen. Ich will nicht, und ich kann nicht. Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, muss ich daran denken. Was meinem Onkel und meiner Tante zugestoßen ist.»
    Ich wollte sie ohrfeigen, rechts und links, so, wie man es bei der SS gelernt hatte. Es hätte vielleicht funktioniert – bei jedem außer Anna. Sie vertraute mir nicht. Sie glaubte, dass ich ein Nazi war.
    Ich ließ sie los. «Hör zu, Engel. Es wird wahrscheinlich nicht funktionieren, aber ich versuche es trotzdem noch einmal, und dann lasse ich dich in Ruhe. Wenn sich zwei Menschen lieben, dann sollten sie aufeinander aufpassen.»
    «Liebe spielt keine Rolle», sagte sie. «Es ist kein ausschlaggebender
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