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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn
Autoren: Peter S. Beagle
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könnten sie nach einem echten Einhorn noch zu bieten haben? Aber Mammys Fortunas Mitternachtsmenagerie hält ein weiteres Mysterium für euch bereit – einen Dämon, der bedrohlicher als der Drache ist, monströser als der Martichoras, hässlicher als die Harpyie und ganz gewiss eigenartiger als das Einhorn.« Er wies auf den letzten Wagen, dessen schwarze Vorhänge sich langsam öffneten, ohne dass sie jemand aufgezogen hätte. »Der absolute Höhepunkt! Das Ende! Eli!«
    In dem Käfig herrschte tiefste Dunkelheit, und Kälte regte sich hinter den Gittern wie ein Tier; und in dieser Kälte bewegte sich etwas, und das Einhorn sah Eli, eine alte, knochige, zerlumpte Frau, die in dem Käfig kauerte und sich an einem nicht vorhandenen Feuer wärmte und wiegte. So hinfällig sah sie aus, dass die Dunkelheit sie hätte erdrücken müssen, und so hilflos und allein, dass die Zuschauer vor Mitleid hätten herbeistürzen und sie befreien müssen. Statt dessen wichen sie langsam zurück, als bedrohte Eli sie. Doch Eli sah sie nicht einmal an; sie saß im Dunkeln und krächzte ein Lied vor sich hin. Ihre Stimme klang wie eine Säge, die sich in einem Baum festfrisst, wie ein umstürzender Baum.
     
    Was gepflückt, wird Blüten treiben,
    selbst die Mörder werden endlich bieder;
    was gestohlen, wird im Hause bleiben –
    was vergangen, kehrt nicht wieder.
     
    »Sie sieht nicht gerade großartig aus«, sagte Rukh, »aber kein Held ist ihr gewachsen, kein Gott kann sie bezwingen, kein Zauber sie gefangen- oder fernhalten, denn sie ist freiwillig bei uns. Aber selbst während wir sie hier zur Schau stellen, geht sie unter euch umher, zehrend und zerstörend. Denn Eli ist das Alter!« Die Kälte in dem Käfig griff nach dem Einhorn, und wo immer sie es berührte, wurde es schwach und lahm. Es fühlte sich verwelken, vertrocknen, fühlte, wie seine Schönheit mit jedem Atemzug entfloh. Hässlichkeit quoll aus seiner Mähne, zwang den Kopf nieder, raufte den Schweif aus, zehrte an seinem Körper, zerfraß das Fell und folterte sein Gemüt mit der Erinnerung, was es einmal gewesen war. Irgendwo in der Nähe kreischte gierig die Harpyie, das Einhorn hätte sich gern in den Schatten ihrer bronzenen Flügel geflüchtet, um sich vor diesem Dämon zu verbergen. Elis Lied durchbohrte sein Herz:
     
    Meergebor’nes stirbt an Land,
    Sanftes tritt man nieder;
    Edelmut verbrennt die Hand
    – was vergangen, kehrt nicht wieder.
     
    Die Vorführung war zu Ende. Die Zuschauer schlichen sich davon, keiner allein, sondern in Paaren, in Grüppchen und Gruppen, Fremde hielten sich bei der Hand, drehten sich öfters um, ob Eli ihnen folgte. Klagend rief Rukh: »Haben die Herren keine Lust mehr, die Geschichte des Satyrs anzuhören?« und er beschleunigte ihre Flucht mit grimmigem Gelächter. »Kreaturen der Nacht, ans Licht gebracht!« Sie drängten sich durch die dumpfe Schwüle, am Käfig des Einhorns vorüber und davon, und Rukhs Gelächter hetzte sie nach Hause. Und Eli sang.
    »Sinnestäuschung«, sagte sich das Einhorn, »nichts als Sinnestäuschung«; und irgendwie gelang es ihm, seinen todesmatten Kopf zu heben und tief in die Dunkelheit jenes letzten Käfigs zu starren – und es sah nicht das Alter, sondern Mammy Fortuna, die sich reckte und streckte, die kicherte und sich mit ihrer grotesken Gelenkigkeit vom Boden erhob. Da wusste das Einhorn, dass es nicht sterblich geworden und seine Schönheit unversehrt war, aber es fühlte sich nicht mehr schön. ›Vielleicht ist auch das eine Täuschung‹, dachte es müde.
    »Hat mir großen Spaß gemacht«, sagte Mammy Fortuna zu Rukh. »Das tut es immer. Ich glaube, im Grunde bin ich für die Bühne geboren.«
    »Du solltest nach dieser verdammten Harpyie sehen«, sagte Rukh. »Diesmal habe ich gespürt , wie sie sich losgemacht hat. Mir kam es so vor, als wäre ich die Fessel, die sie hält, und sie hätte mich aufgeknotet.« Es schauderte ihn, und er senkte die Stimme: »Schaff sie weg«, sagte er heiser, »bevor sie uns zerreißt und wie blutige Wolken über den Himmel zerstreut. Daran denkt sie doch die ganze Zeit! Ich spüre, wie sie daran denkt!«
    »Sei still, du Narr!« Die Stimme der Hexe klang fürchterlich vor Furcht. »Ich kann sie in den Wind verwandeln, wenn sie entflieht, in Schnee oder in sieben Notenschlüssel. Doch ich habe beschlossen, sie zu behalten. Auf der ganzen Welt gibt es keine zweite Hexe, die eine Harpyie besitzt, und niemals wird es eine geben! Ich behalte sie
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