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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn
Autoren: Peter S. Beagle
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ihr eignes Werk. Bei Mammy Fortunas Hokuspokus kommt es einzig und allein auf den Glauben an.
    Wenn diese Herde von Mondkälbern ihr Staunen sein ließe, dann bliebe von ihrem ganzen Hexenwerk nichts übrig als das Weinen einer Spinne. Und das würde niemand hören.«
    Das Einhorn wollte nicht noch einmal in das Netz schauen. Es blickte in den Käfig neben sich, und das Blut in seinen Adern ward zu Eis. Auf einem Eichenpfahl saß ein Wesen mit dem Körper eines großen metallenen Vogels und dem Gesicht einer Hexe, das so fürchterlich und mörderisch war wie die Krallen, die es in das Holz geschlagen hatte. Seine Ohren waren rund und zottig wie die eines Bären; wunderschönes mondfarbenes Haar umrahmte das hasserfüllte menschliche Gesicht, floss die schuppigen Schultern hinab und vermengte sich mit dem glitzernden Bronzegefieder. Obwohl es glänzte und schimmerte, schien sich der Himmel zu verdunkeln, wenn man dieses Wesen ansah. Als es das Einhorn, erblickte, gab es einen Laut von sich, der ein Fauchen und Kichern zugleich war.
    Das Einhorn flüsterte: »Dies ist keine Sinnestäuschung. Dies ist die Harpyie Celaeno.«
    Schmendricks Gesicht hatte die Farbe von Hafergrütze angenommen. »Die alte Hexe hat sie durch einen Zufall eingefangen«, wisperte er, »im Schlaf, genau wie dich. Es war für beide ein Verhängnis, und beide wissen es. Mammy Fortunas Kraft ist gerade stark genug, das Ungeheuer zu halten, aber seine Gegenwart allein schwächt ihre Zaubermacht derart, dass es ihr demnächst kaum mehr gelingt, auch nur ein Spiegelei zu braten. Sie hätte sich niemals mit einer wirklichen Harpyie, mit einem wirklichen Einhorn anlegen dürfen. Vor der Wahrheit schmilzt ihr Zauber jedes Mal dahin. Doch sie kann es einfach nicht lassen, das Ungeheuer sich dienstbar machen zu wollen. Aber dieses Mal …«
    »Schwester des Regenbogens! Unglaublich, aber wahr«, trompetete Rukh den ehrfürchtigen Besuchern zu. »Ihr Name bedeutet ›Die Dunkle‹, weil ihre Schwingen vor dem Sturm den Himmel verdunkeln. Sie und ihre beiden Schwestern brachten den König Phineus an den Rand des Hungertodes, indem sie seine Speisen raubten oder besudelten. Aber die Söhne des Nordwinds haben diesem Treiben ein Ende bereitet, nicht wahr, meine Süße?« Die Harpyie gab keinen Laut von sich, und Rukhs Grinsen sah einem Käfig ähnlich.
    »Sie hat sich gewaltiger gewehrt als alle anderen zusammen«, fuhr er fort. »Es war, als hätte man die Hölle mit einem Haar binden wollen, aber Mammy Fortunas Kräfte sind selbst dafür stark genug. Kreaturen der Nacht, ans Licht gebracht! Will Polly eine Erdnuss?« Einige der Zuschauer lachten. Die Harpyie bohrte ihre Krallen in den Pfahl, bis das Holz aufkreischte.
    »Wenn sie sich befreit, musst du frei sein«, sagte der Zauberer, »sie darf dich nicht in deinem Käfig erwischen!«
    »Ich kann die Berührung des Eisens nicht ertragen«, erwiderte das Einhorn. »Mit meinem Horn könnte ich das Schloss öffnen, aber das Eisen! Ich bin gefangen.« Es zitterte aus Angst vor der Harpyie, seine Stimme aber verriet nichts davon. Schmendrick der Zauberer richtete sich stolz auf, wurde um einige Zoll größer, als es das Einhorn für möglich gehalten hätte. »Fürchte dich nicht!« sprach er mit großer Gebärde, »hinter meinem geheimnisvollen Äußeren schlägt ein fühlend’ Herz!« Hier wurde er durch das Herannahen von Rukh und dessen Anhang unterbrochen, einem Anhang, der sich von der widerspenstigen Bande, die beim Anblick des Martichoras gelacht hatte, in ein andächtiges Publikum verwandelte. Der Zauberer machte sich davon, leise zurückrufend: »Hab keine Angst, Schmendrick ist bei dir! Tu nichts, bis du von mir hörst!« Seine Stimme trieb so schwach und kläglich zu dem Einhorn herüber, dass es sich nicht sicher war, ob es sie tatsächlich gehört oder nur ihre Berührung gespürt hatte.
    Es dunkelte. Die Zuschauer standen vor seinem Käfig und starrten seltsam scheu herein. Rukh sagte: »Das Einhorn«, und trat beiseite.
    Es hörte Herzen höher schlagen, Tränen sich zusammenziehen, hörte hastige Atemzüge, aber kein einziges Wort. An dem Gram, an der Sehnsucht und am Entzücken auf ihren Gesichtern sah das Einhorn, dass sie es erkannten, und es nahm ihren Hunger wie eine Huldigung entgegen. Es dachte an des Jägers Urgroßmutter und sann darüber nach, wie es wohl sei, alt zu werden und zu weinen.
    »Die Vorführungen der meisten Unternehmen wären hier zu Ende, denn was auf dieser Welt
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