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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Autoren: Peter S. Beagle
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drehte sie sich um, zeigte ihre morschen Zähne, sagte: »Aber zweimal hab ich dich doch reingelegt! Glaubst du wirklich, diese Glotzaffen hätten in dir ein Einhorn gesehen, wenn ich nicht ein bisschen nachgeholfen hätte? Nein, ich musste dir erst eine Gestalt verleihen, die sie verstehen, und ein Horn, das sie sehen konnten. Heutzutage bedarf es einer armen alten Jahrmarkthexe, um den Leuten klarzumachen, dass da ein echtes Einhorn vor ihnen steht! Du tätest gut daran, bei mir zu bleiben und unecht zu sein, denn auf dieser ganzen Welt wird nur der Rote Stier erkennen, wen er da vor sich hat.« Dann verschwand sie in ihrem Wagen, und die Harpyie ließ den Mond wieder hervorkommen.

3

    chmendrick kam kurz vor Tagesanbruch zurück, lautlos wie Wasser zwischen den Käfigen hindurch gleitend. Nur die Harpyie gab Laut, als er vorüberkam. »Ich konnte mich nicht früher freimachen«, sagte er zum Einhorn. »Sie hat Rukh befohlen, auf mich aufzupassen, und der schläft so gut wie nie. Aber ich habe ihm ein Rätsel aufgegeben, und er braucht immer die ganze Nacht, um eins zu lösen. Das nächste Mal erzähl ich ihm einen Witz, das wird ihn eine ganze Woche beschäftigen.«
    Das Einhorn ließ den Kopf hängen. »Ich bin verzaubert«, sagte es leise. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
    »Ich dachte, du wüsstest es«, sagte der Zauberer sanft. »Hast du dich denn gar nicht gewundert, dass die Zuschauer dich erkannten?« Er lächelte, was ihn ein wenig älter machte. »Nein, natürlich nicht. Darüber würdest du dich nie wundern!«
    »Ich bin noch nie verzaubert gewesen«, erwiderte das Einhorn. Es zitterte und bebte. »Nie gab es eine Welt, in der man mich nicht kannte.«
    »Ich weiß genau, wie dir zu Mute ist«, pflichtete ihm Schmendrick augenblicklich bei. Das Einhorn sah ihn aus dunklen, unergründlichen Augen an, worauf er nervös lächelte und seine Hände betrachtete. »Selten der Mann, den man für das hält, was er wirklich ist. Die Welt steckt voller Fehlurteile. Ich allerdings habe auf den ersten Blick erkannt, dass du ein Einhorn bist, und ich weiß, dass ich dein Freund bin. Doch du hälst mich für einen Clown, einen Hanswurst, einen Verräter, und wenn du mich so siehst, dann muss ich auch einer sein. Der Bann, der auf dir liegt, ist nur ein Truggespinst und wird sich in Nichts auflösen, sobald du wieder frei bist, die Larve aber, die du mir aus Vorurteil aufgesetzt hast, die muss ich in deinen Augen für alle Zeiten tragen. Wir sind nicht immer, was wir scheinen, und selten nur, was wir erträumen. Aber irgendwo habe ich gehört oder gelesen, dass vor langer, langer Zeit Einhörner wohl zu unterscheiden wussten zwischen lachendem Mund und Herzeleid, Hirngespinst und Wirklichkeit.« Der Himmel färbte sich hell, und Schmendricks leise Stimme übertönte für kurze Zeit das Gekreische der Käfiggitter und das leise Rauschen der Harpyienschwingen.
    »Ich glaube, dass du mein Freund bist«, sagte das Einhorn. »Wirst du mir helfen?«
    »Wenn nicht dir, dann niemandem«, antwortete er. »Du bist meine letzte Hoffnung.«
    Nacheinander erwachten winselnd, zitternd und niesend die armseligen Tiere der Mitternachtsmenagerie. Das eine hatte von Steinen und Käfern geträumt und von zarten Blättern; ein anderes war im Traum in sonnenheißem, hohem Gras umhergestreift; ein drittes hatte sich in Blut und Schlamm gewälzt. Und eines hatte davon geträumt, wie eine gute Hand es liebevoll hinter den Ohren kraulte. Die Harpyie schlief nie; sie saß jetzt da und starrte in die Sonne, ohne zu blinzeln. Schmendrick flüsterte: »Wenn sie sich zuerst befreit, sind wir verloren!«
    In der Nähe hörten sie Rukh rufen – seine Stimme klang immer, als sei sie in der Nähe: »Schmendrick! He, Schmendrick! Ich hab’s! Es ist eine Kaffeekanne! Stimmt’s?« Der Zauberer empfahl sich und flüsterte zum Abschied: »Heute Nacht! Trau mir, bis es dunkel wird.« Und mit flatternden Rockschößen stob er davon, und wieder schien es, als ließe er einen Teil von sich zurück.
    Gleich darauf galoppierte Rukh am Käfig vorbei, eine geballte Ladung Ehrgeiz und Begeisterung. In ihrem schwarzen Wagen verborgen, summte Mammy Fortuna Elis Lied:

    Heut ist gestern, kalt ist heiß,
    alles Hohe zieht’s hernieder.
    Rätsels Lösung niemand weiß –
    was vergangen, kehrt nicht wieder.

    Die ersten Zuschauer schlenderten herbei; Rukh lockte sie, indem er wie ein eiserner Papagei »Kreaturen der Nacht!« schrie, und Schmendrick stand auf
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