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Das letzte Buch

Das letzte Buch

Titel: Das letzte Buch
Autoren: Zoran Zivkovic
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und wandte sich zur Tür. Sie ging langsam, als wäre sie nicht erfreut darüber, die Wärme und
     das Licht der Buchhandlung gegen den dunklen, windigen Novemberabend auf der Straße eintauschen zu müssen.
    Wieder einmal hatte ich mich geirrt. Die Frau war mir am wenigsten zweifelhaft vorgekommen. Ich war überzeugt gewesen, der
     junge Mann sei aus anderen Gründen hier, doch er hatte als Einziger ein Buch gekauft. So ist das, wenn man sich von Vorurteilen
     leiten lässt! Ich würde niemals einen Ohrring tragen, aber ein guter Polizist darf es sich nicht erlauben, dass ihn der eigene
     Geschmack zu einem Fehlurteil verleitet!
    Als hinter der alten Dame das Geläut der Schellen über der Tür verhallt war, wandte ich mich der Inhaberin der Buchhandlung
     zu. Sie lächelte und kam zu mir. Ich stand auf und ergriff die mir gereichte Hand.
    »Guten Abend, Herr Kommissar.«
    »Guten Abend, Fräulein Gavrilović. Ich hoffe, die Kundin, die als Letzte hinausgegangen ist, hat das Buch bezahlt, das sie
     mitgenommen hat.«
    »Es ist Ihnen nicht entgangen? Ja, natürlich. Ein erfolgreicher |18| Kommissar muss eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe haben.«
    »Hätte ich eingreifen sollen?«
    »Ich dachte, Sie widmen sich ernsthafteren Verbrechen als einem kleinen Diebstahl.«
    »In den Pausen zwischen schwereren Verbrechen kommen auch kleine Diebstähle gelegen, damit man nicht aus der Übung gerät.«
    »Es wäre ein Fehler gewesen einzugreifen. Das war kein Diebstahl. Sie hat diese Sammlung von Liebesgedichten bereits gekauft.
     Und mit dem Buch auch das Recht, hier zu sitzen und es zu lesen. Sie kommt regelmäßig jeden Donnerstagnachmittag her. Immer
     setzt sie sich in denselben Sessel. Wenn er zufällig besetzt ist, dann steht sie geduldig und beharrlich daneben, bis er frei
     wird.«
    »Es scheint, diese Buchhandlung zieht Sonderlinge an.«
    »Die Frau gehört zu den gemäßigteren. Wir haben auch weitaus schrulligere Besucher. Wissen Sie, wie wir sie nennen? Inoffiziell,
     natürlich.«
    »Nein.«
    Wieder lächelte sie, diesmal mit einem Anflug von Unbehagen.
    »Patienten.«
    »Dann haben sie wohl diese Bezeichnung verdient.«
    »Urteilen Sie selbst: Ein anderer Kunde, der mindestens einmal pro Woche kommt, kauft immer wieder das gleiche Buch. So viele
     Exemplare, wie er vorfindet. Und das schon seit mehr als einem Jahr. Wir haben bereits fast hundertfünfzig Exemplare verkauft.«
    »Ob es vielleicht der Autor ist?«
    Sie lachte silberhell.
    »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber warum sollte der Autor seinen Lesern das Vergnügen vorenthalten, sein Buch zu
     kaufen?«
    |19| »Oh, dafür kommen mindestens zwei Gründe infrage: Vielleicht ist er nicht zufrieden mit dem, was er geschrieben hat. Oder
     im Gegenteil, er ist mehr als zufrieden und glaubt, keiner außer ihm selbst sei würdig, sein Wunderwerk zu lesen.«
    »Das wäre Eigenliebe ersten Ranges!«
    »Es gibt wenige Schriftsteller, die sich der Bescheidenheit rühmen können.«
    »So einem bin ich noch nicht begegnet. Und ich kenne sie ziemlich gut!«
    »Weshalb fragen Sie diesen Kunden nicht einfach, ob er sein eigenes Buch kauft?«
    »Weil das Leben nicht immer einfach ist. Im ›Papyrus‹ steht Diskretion an erster Stelle. Wir befassen uns nicht mit den Beweggründen
     der Kunden. Obwohl es mich manchmal schon reizt, sie zu erfahren. Zum Beispiel würde ich gern wissen, was in dem Kopf der
     Dame vorgeht, die stundenlang vor demselben Regal verbringt und dabei die Bücher in anderer Reihenfolge sortiert. Das tut
     sie so unauffällig wie möglich. Sie wartet jedes Mal so lange, bis sie glaubt, ich schaue nicht in ihre Richtung.«
    »In anderer Reihenfolge?«
    »Ja. Bei uns werden die Bücher nach Titeln einsortiert. Zuerst hatte ich gedacht, ihr gefiele es aus irgendeinem Grund besser,
     sie nach Autoren anzuordnen. Aber das war nicht so. Eine Zeit lang habe ich versucht, eine bestimmte Regel in ihrer Reihenfolge
     zu finden, aber erfolglos. Entweder ich bin nicht scharfsinnig genug, oder es gibt da keine Regelmäßigkeit.«
    »Weshalb verbieten Sie ihr nicht, die Bücher durcheinanderzubringen?«
    »Weil wir eine gute Kundin verlieren würden. Wenn sie ihre Macke befriedigt und die Bücher umgeordnet hat, kauft sie immer
     etwas, sogar mehrere Bände. Hauptsächlich teure |20| Ausgaben. Und das ist der Ausgleich für die kleine Unordnung, die sie hinterlässt, mehr als ein Ausgleich.«
    »Könnte ich die Reihenfolge einmal anschauen?«
    Sie sah
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