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Das letzte Buch

Das letzte Buch

Titel: Das letzte Buch
Autoren: Zoran Zivkovic
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Jüngere hätten ihn um seinen Gesundheitszustand beneiden können.«
    »Aber er ist doch tot?« Ich hielt ein wenig inne. »Oder nicht?«
    »O ja, das ist er. Mausetot! Und wäre er es nicht gewesen, als er gebracht wurde – die Autopsie hätte er schwerlich überlebt …«
    Ich runzelte die Stirn. Sein schwarzer Humor gefiel mir nicht. Aber der ist wohl unausweichlich bei so einer Tätigkeit wie
     der seinen.
    »Und wie erklären Sie es sich dann?«
    |14| »Dafür gibt es keine einfache Erklärung.«
    »Gibt es eine komplizierte? Die Leute sterben nicht grundlos. Es muss einen Grund geben!«
    »Man könnte eine komplizierte Erklärung finden, wenn man seiner Fantasie freien Lauf ließe. Aber die wäre so unwahrscheinlich,
     dass ich sie mir verkneife.«
    »Halten Sie sich nicht zurück. Fantasie bewegt die Welt.«
    Er kicherte. »Ich denke, es geht um Geld.«
    »Auch um Geld, natürlich. Also, ich höre.«
    »Es gibt da bestimmte künstliche Substanzen, die tödlich wirken können, ohne eine Spur zu hinterlassen. Unter ihrer Wirkung
     hört der Mensch einfach auf zu leben. Er erlischt sozusagen, genauso wie dieser Herr Todorović. Äußerlich ohne Grund. Ich
     bin natürlich in der Praxis noch nie darauf gestoßen, aber ich kenne sie aus der Literatur.«
    »Künstliche Substanzen?«
    »Um sie herzustellen, braucht man ein sehr gut ausgestattetes Labor. Das kann man keinesfalls zu Hause machen. Zum Glück auch!«
    »Aber warum wird so etwas überhaupt gemacht? Wer benötigt das denn?«
    »Na, das müssten Sie schon beim Staatsschutz nachfragen. Ich bin nur ein gewöhnlicher Pathologe.«
    Wieder vergingen einige Augenblicke in Schweigen.
    »Der Staatsschutz soll zu tödlichen Substanzen greifen, um einen pensionierten Klavierlehrer mit drei Katzen aus dem Weg zu
     schaffen, der in eine Buchhandlung geht, um sich ein bisschen aufzuwärmen?«
    »Ich habe Ihnen ja gesagt, die Erklärung ist ziemlich unwahrscheinlich!«
    »Wollen Sie das als Todesursache in die Papiere schreiben?«
    »Natürlich nicht.«
    »Was werden Sie denn schreiben?«
    |15| »Das, was ich mit Sicherheit weiß: Todesursache unbekannt.«
    »Und das genügt?«
    »Ja, außer, wenn …«
    »Wenn was?«
    »Außer, wenn sich in Kürze ein neuer Todesfall ohne Ursache ereignet.«

|16| 3.
    Eine Viertelstunde vor acht betrat ich die Buchhandlung. Obwohl bald geschlossen wurde, befanden sich noch etwa ein Dutzend
     Kunden im Laden. Die meisten standen an den Regalen, die Titel auf den Buchrücken lesend oder in einem herausgezogenen Buch
     blätternd. Drei Sessel waren besetzt. Ich sah mir die Leute an, die darin saßen. Niemand machte den Eindruck, als schliefe
     er. Fräulein Gavrilović war an der Kasse beschäftigt, vor der zwei Käufer standen.
    Ich ging zu dem nächstbesten Regal und nahm wahllos ein Buch heraus. Dann ging ich zu dem freien Sessel, knöpfte meinen Mantel
     auf und setzte mich. Die Federn waren schon ausgeleiert, sodass ich tief einsank. Meine Knie befanden sich in Höhe des Bauchnabels.
     Erst als ich saß, merkte ich, dass ich in jenem Sessel saß, in dem am Abend zuvor Herr Todorović gestorben war. Ohne Grund.
    Ich öffnete das Buch in der Mitte, doch ich blickte über die Zeilen hinweg. Die Schlange vor der Kasse war inzwischen doppelt
     so lang. Ich versuchte abzuschätzen, wer von den Leuten in den Sesseln wegen eines Buchs gekommen war und wer sich nur aufwärmen
     wollte. Eine Frau mit grau meliertem Haar, grauem Mantel und Kappe war offenbar ziemlich kurzsichtig. Sie hielt sich einen
     dünnen Band direkt vor die Augen, sodass er ihr Gesicht verdeckte. Ein Herr in kariertem Sakko und mit einer nicht angesteckten
     Pfeife in der Hand wendete rasch die Blätter eines Buchs mit vielen Illustrationen |17| um. Ein junger Mann mit einem langen, grellroten Schal und einem auffälligen Ring am linken Ohr las eifrig konzentriert.
    Als Fräulein Gavrilović unmittelbar vor acht Uhr mit sanft erhobener Stimme verkündete, dass sie in Kürze schließen werde,
     standen der Herr mit der Pfeife und der junge Mann sofort auf. Der junge Mann ging zur Kasse, während der ältere Herr nicht
     ohne Mühe das große, dicke Buch in die höchste Reihe des Regals neben ihm zurückstellte. Dann nahm er seinen Mantel vom Garderobenständer
     neben dem Eingang und ging ohne Zögern hinaus.
    Die Frau mit dem grau melierten Haar ließ das Buch erst sinken, als niemand mehr an der Kasse war. Sie steckte es in die große
     Tasche, die sie im Schoß hielt,
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