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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition)
Autoren: Cédric Villani
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großen Teils des Thurston-Programms skizzierte.
    Angeregt durch die theoretische Physik, hat Perelman gezeigt, dass eine bestimmte Quantität, die er Entropie nennt, weil sie der Boltzmann’schen ähnlich ist, abnimmt, wenn man die Geometrie durch den Ricci-Fluss verformt. Dank dieser originellen Entdeckung, deren Tiefe wir zweifellos noch nicht völlig ausgelotet haben, gelang es Perelman, zu beweisen, dass man den Ricci-Fluss wirken lassen könne, ohne dass jemals eine Explosion auftritt, d.h. eine zu heftige Singularität. Oder anders gesagt: Wenn eine Singularität auftritt, kann man sie beschreiben und kontrollieren.
    Perelman kam dann noch einmal in die Vereinigten Staaten, um einige Vorträge über seine Arbeiten zu halten, und beeindruckte die Beobachter durch seine meisterhafte Beherrschung des Problems. Verärgert über den Druck der Medien, der auf ihn ausgeübt wurde, war er ebenso von der Langsamkeit irritiert, mit der die Mathematikergemeinschaft seinen Beweis verdaute. Er kehrte nach Sankt Petersburg zurück und ließ die anderen seine Argumente ohne ihn überprüfen. Es dauerte nicht weniger als vier Jahre mit unterschiedlichen Teams, um Perelmans Beweis zu reproduzieren und ihn in den allerkleinsten Details zu vervollständigen!
    Die beträchtliche Bedeutung dieses Beweises sowie Perelmans Rückzug versetzten die Mathematikergemeinschaft in eine noch nie dagewesene Situation, die zu Spannungen und Kontroversen über die Urheberschaft des Beweises führten. Wie dem auch sei, die Mathematiker gelangten schließlich zu der Gewissheit, dass Perelman Thurstons große Vermutung der Geometrisierung wirklich bewiesen hatte und damit auch die Poincaré’sche Vermutung. In den letzten Jahrzehnten ist diese Heldentat ohnegleichen, mit Ausnahme vielleicht von Andrew Wiles’ Beweis des Großen Fermat’schen Theorems in den 90er Jahren.
    Auf Perelman regneten Auszeichnungen ein: 2006 die Fields-Medaille, dann der Ehrentitel des wichtigsten wissenschaftlichen Fortschritts des Jahres, ein Titel, der so gut wie nie an die Mathematiker geht. Der Clay-Preis des Jahrtausends folgte 2010. Zum ersten Mal wurde dieser hochdotierte Preis verliehen! Perelman verfuhr mit diesen Auszeichnungen nicht anders, als dass er eine nach der anderen ablehnte.
    Eine Vielzahl von Journalisten auf der ganzen Welt haben sich überschlagen, um seine Ablehnung der von Landon Clay angebotenen Million Dollar zu kommentieren, und wetteiferten damit, das Thema des verrückten Mathematikers auszuschlachten. Sie haben sich ohne Zweifel geirrt: Das Außergewöhnliche an Perelmans Fall war weder die Ablehnung des Geldes und der Ehrungen noch der exzentrische Charakter – wir kennen genügend andere Beispiele für das eine und das andere –, sondern die außerordentliche Charakterstärke und der außergewöhnliche Scharfsinn, die nötig waren, um in sieben Jahren einsamer und mutiger Arbeit das emblematische Rätsel der Mathematik des 20. Jahrhunderts zu besiegen.
    Im Juni 2010 veranstalteten das Clay Mathematics Institute und das Institut Henri Poincaré in Paris gemeinsam eine Tagung zu Ehren dieser Heldentat. Fünfzehn Monate später wurde verkündet, dass das von Perelman abgelehnte Geld dazu dienen würde, einen ganz besonderen Lehrstuhl zu schaffen, der am Institut Poincaré eingerichtet werden soll. Dieser »Poincaré-Lehrstuhl« wird junge, äußerst vielversprechende Mathematiker unter idealen Bedingungen, ohne Lehr- oder Anwesenheitsverpflichtung, willkommen heißen, um ihre Entfaltung zu ermöglichen, genauso wie Perelman es tun konnte, als er die Gastfreundschaft des Miller-Instituts in Berkeley genoss.

Kapitel 43
    Hyderabad, 19. August 2010
    Mein Name erklingt in dem gewaltigen Saal, und mein Porträt – karminrote Künstlerschleife, weiße, blasslila getönte Spinne –, das von dem Fotografen Pierre Maraval gemacht wurde, erscheint auf dem riesigen Bildschirm. Ich habe die Nacht nicht geschlafen, und dennoch habe ich den Eindruck, noch nie so wach gewesen zu sein. Das ist der wichtigste Moment meines Berufslebens, von dem die Mathematiker träumen, ohne zu wagen, es sich einzugestehen. Der mehr oder weniger anonyme Wissenschaftler mit der Nummer 333 in der Liste der »Tausend Forscher«, die Maraval fotografiert hat, ist im Begriff, ins Rampenlicht zu treten.
    Ich erhebe mich und gehe zur Bühne nach vorne, während die Worte erklingen: A Fields Medal is awarded to Cédric Villani, for his proofs of nonlinear Landau damping
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