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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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den dick herniederfallenden Schneeflocken zusahen, lasen die meisten Leute, daß das Kabinett Papen zurückgetreten sei. Der Reichspräsident hatte den General von Schleicher mit der Neubildung der Regierung betraut.
    »Zuerst ein Katholik, dann ein Adliger, jetzt ein General – so kommt die Republik zu Fall«, witzelten einige, und gleichgültig meinte man von der Generalsregierung: »Na, es wird eine Militärdiktatur so ungefähr wie unter dem Kaiser! Das sind wir wenigstens gewohnt.«
    Indessen, der Skandal von der verschwenderischen Sanierung der ostpreußischen Großgrundbesitzer war inzwischen ruchbar geworden. Der Reichstag zeigte sich noch einmal aktiv und verlangte eine Untersuchung. Der neue Kanzler drohte mit abermaliger Parlamentsauflösung und Neuwahlen, und wie einst Brüning deutete er etwas an von Parzellierung der unrentablen Gutshöfe. Die Junker fuhren zu ihrem Hindenburg. Der Reichspräsident verweigerte dem Kanzler, den er lediglich als seinen militärischen Untergebenen betrachtete, die Genehmigung zur Reichstags-Auflösung. Drei Tage darauf demissionierte die Schleicher-Regierung.
    Jetzt überstürzten sich die Ereignisse.
    Im Präsidenten-Palais tauchte wiederum Herr von Papen auf und verhandelte lebhaft. Von Schleicher hieß es, er verhandle mit rheinischen Stahlmagnaten, und es sei bereits ein genau durchdachter Staatsstreich mit der Armee besprochen. Dabei sollte sogar Hindenburg als Verhafteter ins Lager Döberitz gebracht werden.
    Im Hotel »Kaiserhof« hatte Hitler die Seinen um sich versammelt. Elegante Autos fuhren vor. Ihnen entstiegen Großindustrielle und Bankiers, deutschnationale Parlamentarier und Prinzen. Es ging ein und aus, aus und ein. Draußen – abgeriegelt von einer starken Polizeikette – stauten sich erwartungsvolle nationalsozialistische Massen, die man geschickt hierher dirigiert hatte. Sie verlangten immer wieder nach ihrem »Führer« und brachen bei jeder Gelegenheit in wilde »Heil«-Rufe aus. Passanten, die nicht mitmachten, wurden verprügelt.
    Über allem Leben aber lag ein lähmender Druck. In jeder Stadt, in jedem Dorf konnten die übermütigen SA-Leute Hitlers Überfälle auf Gegner machen, und die Polizei hielt sich zurück, kam stets zu spät oder verhaftete jene, die die Nazis »provoziert« hatten. Ein verstummtes Grauen ging um. Die Menschen waren tief eingeschüchtert wie nach einem brutalen feindlichen Überfall. Sie gingen aneinander vorüber, grüßten nicht mehr, musterten sich gegenseitig mit Raubtierblicken, und kein politisches Wort fiel mehr. –
    Es war ein früher Januar-Vormittag. Starr ragten die Hauswände empor. Auf den vorspringenden Dächern deraltmodischen Erker und Verzierungen lag der angeschwärzte, gefrorene Schnee.
    Unruhig wie Tausende gingen meine Frau und ich durch die Straßen. Die Sonne hatte sich endlich aus dem dunstigen Himmel geschält. Klar und warm fiel sie in die tiefen Häuserschächte. Von den Dächern tropfte der nunmehr zergehende, schmutzige Schnee. Merkwürdig verstummte Menschengruppen sammelten sich vor den gelb leuchtenden Telegramm-Anschlägen.
    Herausfordernd spazierten volluniformierte SA- und SS-Trupps von sechs bis zwölf Mann durch das Publikum und rempelten Passanten an. Die gingen mit scheuen Blicken an ihnen vorüber. Ab und zu blieb der Trupp der Uniformierten stehen und musterte so einen Zivilisten von oben bis unten, von unten bis oben höhnisch. Sekundenlang sah der angstbeklommene Mensch drein wie ein gefangenes Tier.
    »Na, laßt ihn laufen … Es kommt uns keiner aus!« rief der SA-Führer, und seine Begleiter grinsten vielsagend. Der angehaltene Zivilist ging geduckt weiter. Er bog um eine Hausecke und beschleunigte seine Schritte.
    Nervös patrouillierten die verstärkten Polizeistreifen, die diesmal seltsamerweise wieder zu sehen waren. Da und dort wurde ein Jude vom Trottoir hinuntergestoßen, griff nach seinem heruntergefallenen Hut und ging über die Straße. Plötzlich plärrten Passanten hinter ihm her: »Haut ihn nieder, die Judensau! Nieder!« Die SA-Männer sahen befriedigt auf, wenn etliche nicht uniformierte Nazis zu laufen begannen. Selbstbewußt gingen sie den Laufenden nach. Über der Straße reckten sich Fäuste, die Schutzleute rannten herbei. Der Jude verschwand im Gewühl. Ordinäre Flüche flogen ihm nach, und »Heil! Heil Hitler!« brüllten einige im Menschengemeng.
    Wir sahen nicht mehr auf die Telegramme. Wir wußten es: Hitler war Reichskanzler geworden!
    Wir
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