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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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Generale offener. Die Gerichte schonten die gewalttätigen Nazis, und wie eine feindliche Besatzungsarmee überzogen ihre militanten Formationen das Land mit Terror.
    Der Kanzler Brüning zerdachte sich das Hirn.
    Hinter ihm standen die bürgerlichen Parteien, weil sie eine Revolution fürchteten. Die Sozialdemokraten tolerierten seine Regierung, um wenigstens noch halbwegs die Grundrechte der Arbeiter zu sichern sowie ihre Machtpositionen gegen die Nazis und Kommunisten. Die ostpreußischen Junker dagegen verlangten vom Kanzler eine ausgiebige Sanierung ihrer heruntergewirtschafteten, verschuldeten Güter und erhielten trotz aller Geldknappheit Millionen und Abermillionen aus der Steuerkasse. Sie begannen wieder in ganz großem Stil zu leben und hatten zunächst nichts gegen den Doktor Brüning einzuwenden.
    Der Kanzler versuchte eine Streichung der Kriegsschulden zu erwirken, aber nun herrschte auch in Frankreich, England und Amerika eine heftige wirtschaftliche Krise. Er erreichte nichts. Das Ziel rückte in die weite, nebelige Ferne.
    Um wenigstens im Inland Ruhe zu gewinnen, verhängte der Kanzler das Verbot über die Hitlerpartei und ging scharf gegen die Kommunisten vor. Der Terror stieg bürgerkriegsähnlich. Im stillen begann der Kanzler mit einer Annäherung an die zu mächtig gewordenen Nazis. Vergeblich. Endlich wollte er dem Bauernelend zu Leibe rücken und schlug ein großes Siedlungsprogramm für gefährdete Kleinbauern vor. Dabei machte er Andeutungen über eine teilweise Parzellierung des unrentablen junkerlichen Großgrundbesitzes. Das wirkte alarmierend auf die Junker. Sie hatten den Reichspräsidenten inzwischen durch Schenkung eines Gutes zu einem der Ihrigen gemacht und bestürmten ihn nun. Der vergeßliche Soldat war erbost über den »roten Kanzler«. Er schrieb sich einige Fragen auf einen kleinen Zettel und reiste ungesäumt nach Berlin.
    Erst vor kurzem war in zwei hartnäckigen, ungemein erbitterten Wahlgängen um die Verlängerung der Amtsperiode des Präsidenten gerungen worden.
    Als Gegenkandidat des alten Feldmarschalls war zum ersten Male Hitler aufgetreten und hatte dreizehneinhalb Millionen Stimmen erhalten, doch der Doktor Brüning erfocht seinem Hindenburg mit neunzehn Millionen Stimmen den unbedingten Sieg. Jetzt, aus Ostpreußen zurückgekehrt, rief der wiedergewählte Präsident seinen treu ergebenen Kanzler zu sich und zwang ihn kurzerhand, zu demissionieren.
    Er berief Franz von Papen, den er schon deswegen schätzte, weil er einst ein schneidiger, eleganter Reiteroffizier gewesen war, in die Reichskanzlei. Es war wieder wie in der Kaiserzeit: Nach eigenem Gutdünken ließ der Präsident die Kanzler kommen und gehen, ohne daß ihn jemand daran hinderte.
    Das Verbot der Nazipartei wurde aufgehoben. Die Unruhe im Land stieg. –
    Am selbigen Allerseelentag fuhr ich wie gewöhnlich nach Berg, um mit meiner Mutter im Pfarr-Friedhof an das Grab unserer Familie zu gehen. Wenn ich einmal zu Weihnachten, Ostern oder Pfingsten nicht kam, das verübelte sie nicht weiter. Zum Grabgang aber mußte ich kommen.
    Der diesmalige November war lau. Die Tage leuchteten in der milden Sonne. Die gewellten, abgeernteten Felder verströmten in der Ferne und flossen in das blasse Blau des Himmels. Der leicht bewegte See roch fischig, und die noch nicht ganz entblätterten Laubwälder der umliegenden Ufer zeigten noch hin und wieder kärgliche Herbstfarben. Weit weg ragten die Berge aus dem dünnen, schleierigen Dunst und sahen aus wie zackig geschnittene Kulissen.
    Ich atmete tief auf, als ich in Berg aus dem Dampfschiff stieg. Es war still wie immer. Die dürren Blätter raschelten unter meinen Füßen. Gedankenversunken ging ich durch das Dorf.
    Ein schrecklich zerhetzter, aufregender Sommer lag hinter mir. Schon eine lange Zeit konnte ich nicht mehr schriftstellerisch arbeiten, und jeder Tag war für mich stets so verlaufen: Am Morgen durchflog ich die Zeitungen, und Unrast und Spannung ergriffen mich.
    »Die Radionachrichten sind noch fürchterlicher!« sagte meine Frau. Sie war blaß, sah mitgenommen aus, hatte tiefe Ränder um die Augen und klagte über Kopfweh. Keine Nacht konnte sie mehr schlafen.
    »Komm, geh mit! Ich halte es daheim nicht aus! Gehn wir!« sagte ich, doch sie lehnte ab und erwiderte niedergeschlagen: »Nein, geh nur allein! Ich rege mich zu sehr auf. Ich erfahr’ ja sowieso alles durchs Radio.« Ein schwerer Druck legte sich auf meine Brust. Ich kam auf die Straße und
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