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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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ihnen und fing ein Gespräch an.
    »Jaja, Kamerad, ich kenn’ das! Mir ist’s genau so gegangen«, sagte der Fremde, wenn sein Gegenüber mürrisch klagte: »Dieses System ruiniert uns alle.«
    Er lud den Verzagten ein, gab ihm zu essen, stellte Bier hin, politisierte behutsam weiter und meinte schließlich: »Übrigens, ich kenn’ dich ja nicht! Vielleicht bist du ein Kommunist oder Sozi! Ganz gleich! Aber wir zwei sind eben doch deutsche Männer vom gleichen Fleisch und Blut.«
    Es klang warm, fast herzlich. Er schenkte von neuem Bier ein. Schüchtern sah der arme Mann in der kleinbürgerlich möblierten Wohnung herum.
    »Du siehst, ich bin kein Kapitalist«, sagte sein Gastgeber witternd, »mir kann es morgen genau so ergehn wie dir. Gibt uns etwa die Regierung Arbeit? Schert sich vielleicht die Judenrepublik um uns, was? Nein! Du kannst ihretwegen verkommen wie hunderttausend andere! Wenn bloß die Bonzen ihre Ministersessel behalten!« Er musterte den benommen schweigenden Gast sichtlich mitleidig und fuhr fort: »Da, melde dich in unserm ›Braunen Haus‹, wenn du willst … Du brauchst nichts weiter tun, als eine Nacht Wache stehn, und kriegst in der Früh’ deine zwölf Mark … Es ist eine leichte Arbeit, und sie verpflichtet dich zu nichts … Probier’s mal! Wir verlangen von keinem, daß er gleich Mitglied bei uns wird. Nationalsozialist ist man oder man ist es eben nicht.«
    Zwölf Mark? Das war fast ein halber Wochenlohn. Der arme Mann war seit seiner Lehrlingszeit Gewerkschafter und Sozialdemokrat. Er haßte die Nazis. Er schämte sich – aber wie hatte sein freundlicher Gastgeber gesagt, wie? »Es ist eine Arbeit wie jede andere, und sie verpflichtet zu nichts.« Wenn man satt ist, kann man leicht Charakter haben und wählerisch sein. Der arme Mann stand einmal Wache, stand öfter Wache, und zuletzt wurde er »geheimes Mitglied« der Nazipartei … da merkte es niemand …
    In- und ausländische lndustrielle gaben Unsummen für diese Partei. Sie konnte militärische Formationen aufstellen, konnte jede Versammlung zusammenhauen lassen und war schon ein eigener Staat im Staate. Sie konnte ihren Mitgliedern etwas bieten und schwoll ins Millionenfache.
    In der Reichskanzlei wurde rastlos gearbeitet. Der Kanzler ließ sich durch nichts beirren. Die Kriegsschulden, deren Höhe von den Siegern erst jetzt – nach fast vierzehn Jahren! – festgelegt werden sollte, drückten schwer auf das Land. Nichts hatte eine Zukunft, und die Gegenwart war zermürbend. Das Geld war erschreckend knapp geworden. Verängstigt durch die vielen Zusammenbrüche der Banken hatten die Leute ihre letzten Ersparnisse abgehoben und hielten sie zurück. Die Krämer klagten über die hohen Schulden ihrer Kunden. Die Metzgerläden blieben leer, denn die Schlächterinnungen hatten die Regierung gezwungen, ein strenges Gesetz zu erlassen, demzufolge kein Bauer irgendein Stück Vieh mehr selber schlachten durfte. Nur bei Unglücksfällen im Stall war ihm eine sogenannte »Notschlachtung« gestattet. Jeden Ochsen, jede Kuh, jedes Kalb und Ferkel mußte der Metzger bekommen, und die Preise für dieses Lebendvieh wurden rigoros herabgesetzt, während das Frischfleisch von Tag zu Tag teurer wurde.
    »Jeder muß opfern! Bald sind wir am Ziel!« verkündete der unverzagte Kanzler bei jeder neuen Notverordnung und setzte erhöhte Steuern fest. Die kleinen Bauern verarmten zusehends und verwünschten die Regierung. Sie konnten die Steuern nicht aufbringen, und das Vieh wurde ihnen aus den Ställen gepfändet. Es gab Dorfkrawalle. Die paar Gendarmen, die den Gerichtsvollzieher begleiteten, waren machtlos gegen die rebellische Bauernschaft und mußten fliehen. Ein größeres Polizeiaufgebot mußte kommen. Die Erbitterung stieg.
    Gegen Macht half nur List. In der Nacht stieg der Bauer in den dunklen Stall, band einer Kuh das Maul zu und schlug ihr mit einem stumpfen Hammer das Bein ab. Der »Unglücksfall« war gegeben, es konnte notgeschlachtet werden, und so kam man wenigstens halbwegs zu Geld.
    In den Städten gärte es gefährlich. Wütend über die vielen Entlassungen, ergrimmt wegen der dauernden Lohnkürzungen streikten die Arbeiter. Es kam zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei oder mit den Nazis. Die beiden Arbeiterparteien – Sozialdemokraten und Kommunisten – bekämpften einander blind und beraubten sich ihrer besten Kraft. Ihr Zwiespalt machte viele irre, die zu Hitler übergingen. Den förderten nun auch die
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