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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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löschen«, sagt er zu Antonetta und mir. Während er mit Mama zu trainieren beginnt, gehen wir ins Klubhaus und spielen Wirtin und Gast.
    »Sie wünschen?«
    »Ein Orangina.«
    »Nein«, sage ich zu Antonetta, »du musst doch etwas Besonderes bestellen! Also noch mal: Sie wünschen?«
    »Una grappa.«
    Ich finde im Geschirrschrank ein kleines Glas, fülle es mit Orangina und stelle es vor Antonetta auf den Tisch. »Prosit!«
    Sie leert es in einem Zug. »Un altra grappa!«
    Nach dem dritten Schnaps lässt sie ihren Oberkörper auf die Bank fallen, verdreht die Augen, »mir ist schlecht«.
    »Man sollte halt nicht trinken, wenn man es nicht verträgt.«
    »Mir ist soo schlecht!«
    Auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob Antonetta nur Spaß macht oder wirklich etwas hat. Ich gehe eiligst um den Tisch herum und schlüpfe zu ihr auf die Bank: »Du, ist dir wirklich schlecht?«
    Sie beginnt zu lachen, »gut gespielt, nicht wahr?«
    »Das büßt du mir!« Und ich beginne, sie zu kitzeln. Sie wehrt sich, kitzelt mich auch, ich schreie, wir lachen …
    Das Telefon läutet. Fast wie ein Alarm, so laut läutet in diesem kleinen Holzhaus das Telefon. »Mama, soll ich ans Telefon?«
    »Klar«, ruft Mama über den Platz.
    Es ist Konrad.
    »Kommt, kommt sofort heim! Papa hat einen Unfall gehabt …« Mama rafft ihre Kleider an sich und rennt, verschwitzt wie sie ist, zum Wagen. Wir hinterher. Unterwegs verliert sie den Schlüssel. Antonetta hebt ihn auf, wir steigen alle gleichzeitig ein. Onkel Fred fährt hinter uns. Auf der langen Geraden zwischen Derendingen und Zuchwil hupt er.
    »Mama, Onkel Fred tutet, weil du zu schnell fährst!«
    Ich weiß nicht, ob Mamas Gesicht vom Schweiß oder von Tränen nass ist. Sie sollte nicht weinen, sonst ist es, als wäre schon etwas ganz Schlimmes passiert, dabei könnte es ja noch sein, dass es gar nichts ganz so Schlimmes ist …
    »Gell, Mama, es ist doch besser, dass Papa einen Unfall gehabt hat, als wenn er einen zweiten Herzinfarkt gehabt hätte, oder?« »Sei still! Bitte sei still!«
    Papa ist tot und Elvira auch. Elvira ist an der Unfallstelle gestorben, Papa auf dem Weg ins Spital.
    Im Miramon gehen Polizisten ein und aus, der Pfarrer, Leute vom Beerdigungsinstitut, der Parroco von der
Missione Cattolica
.
    Onkel Raoul hat Anton aus dem Kollegi heimgeholt.
    Auch Verwandte sind bei uns. Sie kümmern sich um Mama, sie kochen, schreiben Todesanzeigen. Koni ist bis zur Beerdigung bei Schmids.
    Ich darf bei Anton schlafen. Aber er hat gestern nicht mehr reden wollen, und auch jetzt verkriecht er sich unter die Decke, noch bevor ich überhaupt das Licht gelöscht habe. Eine Tanta kommt leise zur Tür herein. Sie streicht mir über den Kopf. Ich tue, als ob ich schlafen würde. Und ich wünsche mir auch nichts sehnlicher als einzuschlafen.
    Hätte ich bloß keine so entsetzliche Angst vor dem Traum! Davor, dass der Lastwagen wieder ungebremst auf den MG prallt und Papa und Elvira wieder aus dem Auto geschleudert werden. Elviras Schrei – so furchtbar ist dieser Schrei! Und jetzt stößt ihr Kopf mit aller Wucht an den Randstein. Während ich zu Elvira laufe, schwebt ihre Mütze wie ein Engel in den Himmel … Er verwandelt sich in Großpapas Adler, kreist über der Unglückstelle, taucht ab … Und nun hackt er auf einen toten Fisch ein … Es ist Papa, bewegungslos liegt er in einer Blutlache am Boden. Papa? Papa, was ist mit dir los? Warum stehst du nicht auf? Bitte, Papa, steh auf! Öffne wenigstens deine Augen! Schau, ich bin’s doch! Aber Papa bleibt stumm. Die Straße hat sich in einen matschigen Friedhof verwandelt. Die Gräber sind voller Schlamm und Schrott. In die gespenstische Stille dringt das Geheul einer Sirene.
    Heute Morgen bin ich aufgewacht, und im ersten Moment habe ich gar nicht daran gedacht, dass Papa gestorben ist.
    Mama kommt nicht zum Frühstück. Jemand sei immer bei ihr, sagen die Verwandten, sie soll jetzt nicht alleine sein. Sie sagen auch, Papa habe am Unfall keine Schuld. Als ob das irgendetwas ändern würde! Zudem weiß ich selber, dass an so etwas Gott schuld ist, nur Gott allein. Deshalb bete ich jetzt nicht mehr. Vielleicht bete ich gar nie mehr. Alle anderen haben ihren Vater noch! Warum ich nicht? Ich bin doch nicht böser als andere!
    Vor Papas offenem Grab hat zuerst der Pfarrer geredet, dann Onkel Arthur – und jetzt segnet der Pfarrer wieder den Sarg. Er wendet sich uns zu und blickt rasch zur Sonne.
    »Bald ist Sommeranfang«, sagt er,
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