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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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sich angekündigt hat. Das ist ihre Scheu, sagen die Eltern. Ich glaube eher, Elvira hat es einfach gern, wenn ihr jemand entgegenkommt. Sie ist wieder »a scuola« gewesen, wie sie den Deutschunterricht im Pfarrsaal nennt. Antonettas Mutter lehrt dort den Italienern unsere Sprache. Elvira ist auf ihre kleinen Fortschritte sehr stolz. Seit ihr Mamas Coiffeur den Zopf abgeschnitten hat, und wenn sie erst noch lächelt, wie jetzt, sieht sie ganz anders aus als früher, nicht schön – und doch irgendwie hübsch. Jedenfalls hat sie die hübschere Frisur als ich. Mit meinen kurzen Haaren sehe ich ja aus wie ein Bub.
Jean Paul und die Erinnerung
    Großmama ist übers Wochenende wieder bei uns. Sie hilft Mama, Papa von seinen trüben Gedanken abzulenken. Mit Jassen gelingt das ziemlich gut. Weil Großmama ungern zu dritt jasst, darf ich mitspielen. Zweimal auf tausend, sie und ich gegen die Eltern. Wir gewinnen beim ersten – und auch beim zweiten Spiel. Zwar nur, weil Großmama vier Könige gewiesen hat, aber wir haben gewonnen!
    »Jaja«, sagt Großmama zufrieden, sie tätschelt meine Hand, »man merkt schon, dass ich es dir beigebracht habe!«
    »Bei Ihnen scheint der Herrgott selbst beim Jassen noch in der Nähe zu sein!« Aus Papas Stimme ist nicht die geringste Missgunst zu hören.
    »Machen wir noch einen?«
    Papa will nicht. Er möchte sich im Herrenzimmer »lieber einen
Temperierten
genehmigen.«
    Mama muss das Großmama erklären. »Heidi, das ist da diese Reiterin, die hat ihm einen Cognac-Wärmer geschenkt, so ein kleines Gestell mit einer Teekerze, darauf wärmt er sich neuerdings seinen Cognac. Er scheint dieses Zeremoniell zu mögen – mir geht das auf die Nerven.«
    Wir machen es uns vor dem Fernseher mit Pommes-Chips gemütlich. Zur Überraschung gib es für Koni und mich Coca-Cola. Großmama zieht glücklicherweise Eierlikör vor, so ist die ganze Flasche nur für uns! Es ist Samstagabend, wir dürfen länger aufbleiben und den Film bis zum Ende schauen. Mama kennt
Die vertauschten Liebesbriefe
schon, es gibt ein Happy End.
    Als Papas Tür aufgeht, reckt sie sofort den Kopf. »Setzt du dich ein bisschen zu uns?«
    Papa bleibt im Vorübergehen stehen. »Tut mir leid, aber für einen solchen Schmarrn habe ich wirklich nichts übrig. Also, ich geh dann.«
    Papa spaziert mit Tosca täglich hinauf zum Kreuz, er hat die Dunkelheit gern. Ich habe ihn auch schon begleitet. Er geht rechts vom Wald durch bis zur Anhöhe und mitten durch den Wald wieder zurück. Auf dem Hügel ist ein großes steinernes Wegkreuz, davor bleibt er eine Weile stehen, erst dann kehrt er um. Ich glaube, Papa betet dort für Großpapa. Oder er denkt einfach an ihn.
    Beim Apéro nach der Sonntagsmesse erzählt Großmama vom
Briefkastenonkel
aus dem Radio. »Eine Frau hat den Briefkastenonkel gefragt, ob man tatsächlich aus Liebe verrückt werden könne, worauf er geantwortet hat, klar, sonst würde ja niemand heiraten.«
    Papa lacht nicht nur mit, er erzählt sogar selber einen Witz. »Ein Mann erwacht ab und zu aus längerem Koma. Eines Tages flüstert er zu seiner Ehefrau, die Tag und Nacht an seinem Bett verbringt: In all den schlimmen Zeiten warst du stets an meiner Seite. Als mein Geschäft pleite ging, hast du mich unterstützt. Als wir das Haus verloren, hieltest du zu mir. Seit es mit meiner Gesundheit abwärts geht, bist du immer in meiner Nähe. Weißt du was? Ich glaube, du bringst mir Pech.«
    »En saublöde Witz«, bemerkt Großmama spitz.
    Seit Onkel Linard seine neue Familie hat, kommt er selten in die Elfuhrmesse und zum Apéro schon gar nicht mehr. Er lässt Lisetta und seine »kleine Prinzessin« ungern allein. Papa findet das lächerlich.
    »Dieser Wintertag ist so schön«, sagt Mama, »ich schlage vor, wir fahren auf dem Weg zurück nach Bern durch den Bucheggberg. Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir in einem netten Gasthof einen Tee nehmen.«
    Mama packt die Reste vom Mittagessen ein. Wir wollen sie bei Großmama abends aufwärmen, »danach gibt’s vielleicht ein Revanche-Jässchen!« Papa kann jedoch nicht mitkommen. Er muss Steuerformulare ausfüllen – »meine Lieblingsbeschäftigung!« Großmama bedauert ihn.
    Koni will den Nachmittag bei Tanti und Onggi verbringen. Wir setzen ihn vor ihrem Haus ab und warten, bis sie ihm den Schlüssel aus dem Fenster geworfen haben.
    »Der kann sie sicher wieder zum Schlitteln überreden, auf dem Weissenstein liegt noch genug Schnee.«
    »Willst du etwa auch lieber
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