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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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wichtig.«
    Wie eine böse Warnung hallt Lehrer Rollis erstes Aufsatz-Gebot in mir nach. Aufgeregt rupfe ich mit den Zähnen an den Nagelhäutchen. Bereits auf der Reise hierher habe ich sie an zwei Fingern weggebissen, Mama hat es glücklicherweise nicht bemerkt. Sobald die Klosterfrau an meinem Pult vorbei ist und sich über ein Mädchen beugt, wickle ich möglichst unauffällig den Zipfel des Taschentuches um den blutenden Daumen. Wieder starre ich auf das Blatt, auf dem noch immer nichts denn dieses von unserem Lehrer verhasste Ich steht. Schon will ich es durchstreichen, da weicht meine Befangenheit plötzlich einem Trotz: Ich bin doch ich! Zwar noch ein Kind, aber nicht unwichtiger als alle anderen Menschen auf dieser Welt. Meine Hand greift zum Füllfederhalter und ergänzt das Ich um vier Buchstaben:
lein
.
    Ohne weiter zu zögern, beginne ich zu schreiben:
Ichlein ist das Kleine in mir, das ich ermutigen muss, damit es sich an die Spitze des ersten Satzes getraut

    Auf der Heimfahrt geraten wir bei Luzern in den Feierabendverkehr. Glücklicherweise ist nicht Papa am Steuer, das würde ihn viel zu sehr aufregen. Ich schwärme derart von meinem gelungenen Aufsatz, dass Mama aus Freude gleich noch eine weitere Zigarette will, »kannst den Anzünder wieder reindrücken«, bittet sie.
    »Mit einem Mal hat es sich wie von selbst geschrieben! Über zwei Seiten, ja, fast drei, stell dir das vor! Mein Aufsatz zeigt, wie aus einem bedeutungslosen, unsicheren Ichlein ein erwachsener Mensch wird wie du oder Papa, einfach wie alle erwachsenen Leute ringsum, die genau wissen, wer sie sind und wozu sie da sind, und die sich nicht schämen, Sätze mit Ich zu beginnen. Wir Kinder sind doch der Anfang von etwas, das erst mit der Zeit ganz wird, nicht wahr?«
    Ich warte Mamas Antwort gar nicht erst ab.
    »Und nun das Beste! Am Schluss des Aufsatzes habe ich sogar noch Aristoteles hineingenommen. Mir ist in den Sinn gekommen, das ist doch der mit dem Spruch, dass ein Spatz noch keinen Sommer macht – oder?«
    »Wie soll denn dieser Schluss zum Thema passen?«
    Mama zieht den Rauch so gierig in die Lungen, dass ich gespannt warte, wie viel Rauch da überhaupt wieder herauskommt.
    »He, ganz einfach. Das Ichlein glaubt sich im Frühling schon im Sommer, und da mahnt Aristoteles eben zur Geduld.«
    Papa lacht, als ich ihm das erzähle. »Eigentlich heißt es Schwalbe und nicht Spatz. Aber daran wird deine Prüfung nicht scheitern. Apropos«, und er wendet sich an Mama, »ich habe am MG endlich die Sommerpneus montieren lassen.«
    »Morgen ist Donnerstag, machen wir eine Spritzfahrt?«
    »Ja«, antwortet Papa, »zumindest Elvira und ich machen morgen eine Spritzfahrt – nach Grenchen. Ich werde ihr noch den letzten Stiftzahn einsetzen, und dann sind wir endlich fertig.« Mama ist froh, dass sie in der Praxis nicht gebraucht wird, sie muss für die Regionalmeisterschaften trainieren.
Der schrecklichste Tag meines Lebens
    Papa will mit Elvira tatsächlich im offenen Sportwagen nach Grenchen fahren. Begeistert scheint sie davon nicht zu sein. Papa sitzt schon am Steuer, da steht sie noch immer zögernd hinter dem Auto, stammelt: »Ma no …«
    »Ma sì, ma sì! Venga«, muntert Papa sie auf, und Mama bittet er, für seinen Fahrgast noch eine Mütze zu holen. Mama bringt auch gleich die Polaroidkamera mit. Ich darf vor der Abfahrt ein Bild machen. Papa rückt Elvira die rote Mütze etwas aus der Stirn, hält nun einen Arm um ihre Schulter und fragt mich: »Sind wir so gut drauf?
    »Ja, und wie! Aber Elvira muss hierher schauen: Elvira, guardi qui – und lächeln!«
    Auf dem Weg zu ihrem Training setzt mich Mama vor dem Schulhaus ab. Glücklicherweise muss sie zum Wenden lange hin und her manövrieren. Im letzten Moment kann ich sie noch stoppen. »Du, der Rolli ist krank, wir haben heute Nachmittag keine Schule.«
    »Willst du eine Freundin mitnehmen und mit auf den Tennisplatz kommen?«
    Antonetta ist mir nachgelaufen, sie grüßt Mama freundlich und nickt begeistert.
    Sie hat nichts dagegen, dass Mama bis zu Onkel Freds Eintreffen ein bisschen mit mir übt. Selbst ein Racket in die Hand nehmen, will Antonetta allerdings auf keinen Fall.
    Außer uns ist noch niemand hier, das habe ich gern. Mama spielt mir die Bälle leicht und schön zu, ich kann sie flach übers Netz zurückschlagen – blamieren muss ich mich vor der Zuschauerin nicht.
    Onkel Fred kommt mit zwei Flaschen Orangina. »Ihr könnt schon mal euren Durst
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