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Das Landmädchen und der Lord

Das Landmädchen und der Lord

Titel: Das Landmädchen und der Lord
Autoren: ANNE HERRIES
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Männer mochte.
    Sie stand auf, und auf dem restlichen Heimweg verbannte sie ihn aus ihren Gedanken. Nun musste sie sich beeilen, um endlich das Cottage zu erreichen, das sie seit dem Tod ihres armen Papas bewohnte. Sie war sehr lange weg gewesen. Sicher hielt Mama schon nach ihr Ausschau.
    Den Korb voller Wildblumen und Kräutern am Arm, die sie gesammelt hatte, betrat sie das Cottage. Ihre Haare waren zerzaust, die Wangen von der frischen Luft gerötet, als sie den Korb auf den blank geschrubbten Küchentisch aus Kiefernholz stellte. Verlockend stieg ihr der Duft von Backwerk in die Nase, und sie griff nach einer Kuchenplatte. In diesem Moment kam Maisie herein. Früher war sie ihr Kindermädchen gewesen, jetzt führte sie Mrs. Hampton den Haushalt und kümmerte sich um alles, was zu erledigen war. Andere Dienstboten konnten sie sich nicht leisten.
    „Rühren Sie bloß den Kuchen nicht an, Miss Susannah!“, mahnte sie. „Heute Nachmittag erwartet Ihre Mama den Vikar und ein paar Freunde zum Tee. Für diesen Kuchen habe ich die letzte Butter verbraucht.“
    „Darf ich mir nur ein ganz kleines Stück nehmen?“, bat Susannah. Ihr Magen knurrte. „Seit heute Morgen habe ich nichts gegessen.“
    „Wären Sie zum Lunch nach Hause gekommen, statt wie eine Landstreicherin über die Wiesen und Felder zu wandern, hätten Sie jetzt keinen Hunger.“ Missbilligend musterte Maisie das Mädchen, konnte aber ihre tiefe Zuneigung nicht verbergen. „Ziehen Sie sich um. In einer Stunde wird der Tee serviert. Bis dahin müssen Sie sich gedulden.“
    „Aber ich bin jetzt hungrig.“ Susannah stibitzte ein ofenwarmes Stück Haferbiskuit und floh aus der Küche, von Maisies Schimpftirade verfolgt.
    Seufzend stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, um ihr altes Kleid mit einem schöneren zu vertauschen. Wieder einmal beschmutzten Grasflecken den Saum, und weil sie an einem Dornengestrüpp hängen geblieben war, klaffte ein kleiner Riss im Rock. Nur gut, dass sie dieses Kleid getragen hatte … Ihre besseren Sachen verwahrte sie für besondere Gelegenheiten. Ihre Mutter besaß gerade genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und Maisies kargen Lohn zu bezahlen. Was sie tun sollten, wenn sie neue Kleider brauchten, wusste Susannah nicht.
    Nach dem Tod des Vaters hatte sich alles geändert. Durch unkluge Investitionen und am Spieltisch hatte er ein Vermögen verloren. Nun mussten sie sich mit dem geringen Einkommen aus einem Erbe der Mutter begnügen.
    „Keine Ahnung, was ich machen soll, Susannah“, hatte Mama gestanden, als sie aus dem komfortablen Haus in das bescheidene Cottage gezogen waren. „Wenn ich dir eine Saison in London finanziere, wird nicht viel von unserem Geld übrig bleiben.“
    „Sorg dich deshalb nicht, Mama“, hatte sie gebeten. „Ich verzichte sehr gern auf eine Saison. Vielleicht läuft mir hier draußen auf dem Land ein Prinz über den Weg, der mich trotz meiner mangelnden Mitgift leidenschaftlich lieben und in sein Schloss heimführen wird. Dann kauft er mir Juwelen und Kleider, und du musst nie wieder jeden Penny umdrehen.“ Ihr Lächeln hatte etwas wehmütig gewirkt, was ihr nicht bewusst gewesen war.
    Traurig hatte Mrs. Hampton den Kopf geschüttelt, erstaunt über die rege Fantasie ihrer Tochter. „Wenn du auch sehr hübsch bist, mein Liebling – so etwas geschieht nur im Märchen. Gewiss wird eines Tages jemand um dich anhalten, aber ob er dir gefällt …“
    „Oh, jetzt denkst du sicher an Squire Horton.“ Stöhnend hatte Susannah das Gesicht verzogen. Der Squire – ein freundlicher Gentleman, über vierzig Jahre alt – hatte zwei Ehefrauen begraben und zog eine ungebärdige Kinderschar groß. Obwohl sie ihn schätzte, fand sie ihn kein bisschen attraktiv und ziemlich langweilig. „Wenn sich nichts anderes ergibt, muss ich eben so jemanden heiraten, Mama“, hatte sie hinzugefügt. „Aber es ist noch zu früh, um alle Hoffnung aufzugeben.“
    Nun verspeiste sie ihren Biskuit, dann wusch sie sich und vertauschte ihr altes Kleid mit einem primelgelben Nachmittagskleid, bürstete ihr Haar und hielt es mit einem weißen Band aus der Stirn. Eine weiße Stola über den Schultern verwandelte die „Landstreicherin“ in eine elegante junge Dame.
    Als sie nach unten gehen wollte, schwang die Tür auf, und Mrs. Hampton eilte ins Zimmer. In einem grauen Seidenkleid sah sie immer noch attraktiv aus. Die Melancholie, die ihr stets etwas bittere Züge verlieh, war ausnahmsweise verflogen.
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