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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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als je zuvor. Wo hatte sich Jakob bloß versteckt? Waren noch mehr Musiker da?
    Innerhalb von zehn Minuten erreichte ich das Frauenlager. Ich stand vor dem Stacheldraht und betrachtete die verlassen wirkenden Baracken. Stand der Zaun nicht mehr unter Strom? Wie konnte ich das überprüfen? Ich lief zum Tor. Es war geschlossen. Wie kam ich dort hinein? Eine Frau in Lagerkleidung winkte mir von der anderen Seite aus zu. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand, und zeigte auf den Zaun. Was wollte sie mir miteilen? Immer und immer wieder deutete sie auf die Absperrung. Auf einmal rannte sie darauf zu und berührte den Stacheldraht. Ich erschrak. Sie lachte.
    Ich kletterte hinüber und fragte die Frau nach Helena. Sie hob bedauernd die Hände. Dann betrat ich irgendeine Baracke. Hier s tank es genauso wie bei den Männern. Vor dem Ofen lagen ein paar Äste und Zweige. Überall sah ich Lumpen, Stroh, Scherben, Näpfe, sogar verschimmelten Kohl – Anzeichen für einen übereilten Aufbruch. Ich inspizierte sechs Baracken. Nichts. Niemand. In der siebten hörte ich Geröchel. In der dunklen Ecke einer Pritsche lag eine kleine Frau, ein von Geschwüren und Krusten bedecktes Gerippe. Sie sah mich ängstlich an. Ich nahm ihre Hand, die sich ledern und trocken anfühlte. »Alles gut«, sagte ich. » SS weg!«
    Sie starrte mich einfach nur an. Verstand sie, was ich sagte? Sie brauchte Wasser. In der Ecke der Baracke stand ein schmutziges Waschbecken. Ich nahm einen Napf und hielt ihn unter den grün oxidierten Kupferhahn. Ein letzter Strahl Wasser kam heraus, dann nichts mehr. Ich setzte mich auf ihre Pritsche, entfernte mit meinem Ärmel ein paar schmutzige Spinnweben über ihrem Kopf und half ihr vorsichtig auf. Sie trank gierig. Baracke 16A. Das würde ich melden, viel mehr konnte ich nicht für sie tun.
    Ich hörte sie rattern, knattern, rollen. Der Boden unter meinen Füßen begann zu zittern. Jetzt sah ich sie: eine Kolonne verdreckter, russischer Panzer. Die Geschütze leicht gehoben, fuhren sie dröhnend am Zaun vorbei. Die Panzerkommandanten saßen in der Geschützkuppel. Sie trugen Lederkappen mit Ohrschützern, genau wie Piloten.
    Ich weinte.
    Die Panzer fuhren in Richtung Haupttor, wo sie kehrt machten und stehen blieben. Ich sah, wie die Panzerbesatzung ausstieg. Die Soldaten rauchten eine Zigarette und musterten den Lagerkomplex, der sich hinter Hunderten Metern von Stacheldraht und zig verlassenen Wachttürmen vor ihnen ausdehnte. Jetzt rollten auch Panzer mit kleinen Kanonen heran.
    Ich gab die Hoffnung auf, dass Helena noch hier war. Vielleicht tauchten noch Listen mit den Namen der verbliebenen Häftlinge auf. Die würde ich mir natürlich ansehen, aber wenn mich nicht alles täuschte, war sie bereits weg. Ich ging wieder ins »Dorf«. Die noch verbliebenen, geschwächten Häftlinge waren aus ihren Baracken gekommen. Sie stützten sich gegenseitig, denn niemand wollte den Einzug der Roten Armee verpassen.
    Ich hörte Jakob nicht mehr spielen. Er hätte die Russen mit der Internationale begrüßen können. Die Tür zu Baracke 24 stand offen. Ich schlüpfte hinein und betrat den Proberaum. Dort hing er. Seine Kehle war bis zu den Halswirbeln aufgeschnitten. Unter ihm lagen ein umgefallener Stuhl und eine Lache Blut. Jakob hatte sich erhängt, an den Saiten seiner Geige.
    Anscheinend war der kleine Zigeunermusiker der Einzige, der noch vom Lagerorchester übrig geblieben war. Ich stellte mich auf den Stuhl und befreite ihn, indem ich zwei zusammengeknotete Saiten voneinander löste. Mit einem dumpfen Knall fiel er zu Boden. Ich legte ihn auf den Rücken, faltete seine Hände und bedeckte seinen Kopf mit der Jacke, die auf dem Tisch lag. Er hatte sein Ziel erreicht, das Lager zu überleben. Aber die Welt war zu groß für ihn allein.
    Immer mehr Einheiten der Roten Armee trafen ein – zu Fuß oder mit Lastwagen. Infanteristen verteilten Zigaretten und Weißbrot an die Häftlinge, welche noch noch die Kraft hatten, die Arme danach auszustrecken. Armeeärzte kümmerten sich um die Kranken. Einem Deutsch sprechenden Arzt meldete ich, dass in Baracke 16A noch eine Frau liege.
    Zwanzig bis dreißig russische Kriegsgefangene befanden sich noch im Lager. Sie kamen aus dem Krankenrevier und waren todkrank. Ich hätte erwartet, dass die Soldaten der Roten Armee sie als ihre Brüder umarmen würden, aber genau das Gegenteil war der Fall: Die russischen Häftlinge saßen mutlos auf dem Appellplatz und wurden von ihren
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